Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Tolerante, der sich Öffnende?
Im Juli 1854 sind Storm und Constanze mit Fontane und weiteren Rütli-Freunden auf einer Abendeinladung bei Kugler. Man hat wieder einmal unterhaltsame Stunden mit Literatur und Bowle verbracht. Storm hat möglicherweise auf seine originelle Weise Spukgeschichten erzählt und die Damen fasziniert. In einem Brief, den er einige Tage später schreibt, wirft er Fontane vor, dieser habe sich auf dem gemeinsamen Heimweg erlaubt, vor Constanze die unbarmherzigsten Zweideutigkeiten und Nuditäten […] auszuschütten .
Was hatte Fontane gesagt? Er muss sich eine wahre Gedächtniskasteiung bereiten, um die corpora delicti noch wieder ausfindig zu machen . Nur aus einem weiteren Brief an Fontane wissen wir, was er gesagt haben soll, erstens: Nun will er sich die unglückliche Liebe mit Baden und Turnen curiren; die könnte er sich ja auf eine viel leichtere und bequemere Weise vertreiben! So zitiert Storm seinen Rütli-Freund und zweitens: In den Schooß weinen! – Nä, dazu ist ein Schooß nicht da!
Storm ist bestürzt, das will er nicht auf Constanze und auf seiner Ehre sitzen lassen. Ich habe mit Ihnen gegrollt; ich bin sehr zornig auf Sie gewesen . Fontane ist ihm aber werth und lieb , Storm mag und kann nicht Menschen verlieren, die ihm wert und lieb sind, er kann aber auch nicht schweigen; was denn ja überall nicht taugt. Und nun schreiben Sie mir ein gutes Wort, und – bleiben wir die Alten! Das muss erledigt werden, das muss raus, und dann Schluss damit.
Fontane, ganz Gentleman, bittet schon einen Tag später um Entschuldigung und will hinfort mehr auf meiner Huth sein und Bemerkungen verschlucken. Dann aber stellt er sich auf die Hinterbeine, bekennt sich mit herzerfrischendem Selbstbewusstsein zu seinem Temperament und Charakter und sagt über sich, daß ich von Natur offen, ehrlich, unverstellt und ein lebhaftes, unterm Einfluß der Minute stehendes Menschenkind bin . Ich hab es immer noch nicht gelernt, mich im Zaume zu halten. […] und ich platze auch mit einer Zweideutigkeit heraus, wenn mir danach zu Muthe ist. Ich habe hinsichtlich meiner Thaten und Worte eine große Unbekümmertheit, und von meinen Worten möchte ich gelegentlich sagen: sie haben mich. Fontane, einmal in Fahrt, plaudert Peinlichkeiten aus, für die Storm verantwortlich sei: Einzelne Ihrer schönsten Liebesgedichte werden unanständig gefunden, und ein leises Entsetzen, das noch immer vibriert, lief durch das ganze Königreich Kugler und die angrenzenden Ortschaften, als Sie von Frau Clara ein Zimmer verlangten, um »Ihrer Frau die Milch abzunehmen«.
Die Bitte erscheint heute als natürlich, berechtigt, selbstverständlich; in der Art, wie darüber gesprochen wird, offenbart sich die Zumutung, die sie damals auf die Gastgeber Kugler haben musste, ganz so, als hätten die Storms das gefälligst diskreter organisieren können. Storm scheint sich darüber nicht im Klaren gewesen zu sein. Ob man in der Husumer Gesellschaft ähnlich reagiert hätte? In Berlin jedenfalls empfindet man Storms Verhalten als grobe Taktlosigkeit. Immer wieder tritt der Dichter in solche Fettnäpfchen.
Fontanes Geschick und Stärke ermöglichen eine freundschaftliche Beziehung, Storms Offenheit und Anhänglichkeit rühren ihn. Fontane schreibt aus London: Die berühmte Unterhaltung in der Wilhelmstraße, wo ich mich in Vermuthungen darüber erging wozu ein Frauenschooß nicht da sei, ist nun hoffentlich vergeben und vergessen . Vergessen? Fontane hat offensichtlich nicht vergessen. Vergeben? Welche Erinnerung bewahrt Storm? Bleibt eine Kränkung? Man könnte vermuten: Er vergisst ebenso wenig wie Fontane.
Eine echte, tiefe Freundschaft lebt nicht zwischen den beiden. Fontane steht am Anfang seiner Schriftsteller-Laufbahn, ergreift als Rütlione ausländische Stoffe und dichtet, wie die anderen, Balladen wie »Archibald Douglas«, die er mit seiner anglophilen Neigung heim nach Preußen holt. Storm denkt im Leben nicht an solches Dichten, auch nicht an diesbezügliche Reisen. England, Italien, Griechenland? – Fehlanzeige. Er sucht seine Stoffe nicht im entfernten Ausland, er findet sie bei sich selber, er selber ist Quelle, er selber ist Topographie und Geschichte seiner Stoffe. Fontanes Weg zum großen Romancier des 19. Jahrhunderts geht über den Balladendichter und Auslandskorrespondenten; erst später wird Fontane Storm nachfolgen, seine großen Romane erschaffen aus Stoffen, die bei ihm vor der Haustür liegen. Der Diener
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