Du kannst mich einfach nicht verstehen: Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden (German Edition)
der Zwischenzeit passiert ist, will ich lieber gar nicht wissen. Hört ihr mir jetzt endlich mal zu oder nicht?
Helen (geht zum Tisch zurück): Fährst du wieder weg, Marilyn?
Marilyn kann ihre Eltern nicht dazu bewegen, ihr zuzuhören. Sie lenken immer wieder ab, indem sie Kommentare über Marilyns Kochkünste, ihre Haushaltsführung, ihre Familie, ihre Sicherheit und ihren Bruder Jake abgeben:
Helen: Wo ist Jake?
Marilyn: Unterwegs. Ich erwischte also den letzten Bus zurück in die Stadt-
Jack: Ich möchte nicht, dass du mit dem letzten Bus fährst. Es ist zu gefährlich.
Marilyn: Es ist nicht halb so gefährlich wie der Versuch, hier eine Geschichte zu erzählen.
So wie die Frau, die sich bei Anne Landers beklagte, weil ihr Mann nicht mit ihr redete, fühlt auch Marilyn sich unsichtbar. Für Marilyn symbolisiert das mangelnde Interesse an ihrer Geschichte die Unfähigkeit ihrer Eltern, sie als eigenständige Person anzuerkennen und zu respektieren, wie sie Jake gegenüber ausführt:
Marilyn: Bei dir wissen sie wenigstens, dass du lebst. Ganz egal, was ich mache, weißt du, wie ich mich dabei fühle? Ich werd’s mal so ausdrücken: Wenn du sie mit dem Auto irgendwohin fährst, dann bist du der wahnsinnig erfolgreiche Sohn, der sich ein eigenes Auto leisten kann. Wenn ich sie mit dem Auto irgendwo hinfahre, dann bin ich der Chauffeur. Weißt du, was mich mehr als alles andere fertigmacht? Das Schönste für mich war immer, wie du und Mama in der Küche Geschichten erzählt habt. Erst erzählte sie eine, dann du, dann sie, dann wieder du. Ich dachte immer, daß ich eines Tages alt genug wäre, um auch etwas Richtiges zu erleben, und dann würde ich Geschichten haben! Bis heute lassen sie mich keine eigene Geschichte erzählen. Ist es nicht verrückt, dass mich das immer noch beschäftigt?
Jake: Ich habe Geschichten erzählt, um ihren zu entgehen.
Jakes Erklärung macht deutlich, dass er die Rolle des Zuhörers vermeiden wollte. Während Marilyn die Geschichten ihrer Mutter liebte, sagt Jake, dass er gelernt habe, selbst zu erzählen, um der Mutter nicht zuhören zu müssen.
Ähnlich wie Marilyn, die glaubte, dass sie eigene Geschichten zu erzählen hätte, wenn sie älter würde, war auch ich als Kind überzeugt, dass alle Erwachsenen über zwei Fähigkeiten verfügten, die mir fehlten: Sie konnten pfeifen und mit den Fingern schnippen. Ich nahm an, dass diese Fähigkeiten mir mit wachsendem Alter ebenfalls zufallen würden, und wartete ungeduldig auf diese Entwicklung. Aber ich wurde erwachsen, und noch immer kann ich weder pfeifen noch ein nennenswertes Geräusch mit den Fingern erzeugen. Als Kind ist es mir nie in den Sinn gekommen, dass diese Eigenschaften sich vielleicht nicht auf dieselbe magische Weise einstellen würden wie die körperlichen Veränderungen der Pubertät. Zu spät habe ich erkannt, dass man üben muss, wenn man die Kunst des Pfeifens und Fingerschnippens beherrschen will. Wenn die erwachsene Tochter in Kein Glück mit der Familie ihre Geschichten nicht so erzählen konnte, dass die anderen ihr aufmerksam zuhörten, lag das zum Teil daran, dass sie es nicht von klein auf geübt hatte. Sie hatte in ihrer Kindheit nur gespannt und aufmerksam gelauscht, wenn ihre Mutter und Jake sich Geschichten erzählten. Während Jake Übung darin bekam, durch sprachliche Darbietungen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bekam Marilyn Übung im Zuhören.
Die Fähigkeiten, die Jake und Marilyn als Kinder ausfeilten, wurden zur Grundlage ihrer erwachsenen Tätigkeiten. Jake wurde Journalist bei der New York Times: Er machte einen Beruf daraus, Geschichten über Nachrichten zu schreiben, die Millionen von Menschen lesen würden – eine andere Form sprachlicher Selbstdarstellung vor Publikum. Marilyn wurde Sozialarbeiterin: Sie machte einen Beruf daraus, still dazusitzen und anderen zuzuhören.
In Feiffers Stück ist Marilyn tatsächlich keine so gute Geschichtenerzählerin wie Jake – sie verheddert sich in unwichtigen Details und unterbricht sich selbst, um peinlich genau irgendeinen Aspekt auszuwalzen, der für die Geschichte völlig unerheblich ist. Die Szene endet damit, dass Jake wieder zum strahlenden Mittelpunkt wird; vor hingerissenem Publikum wiederholt er auf seine Weise eine Geschichte, die Marilyn verpatzt hat. Implizit wird damit ausgedrückt, dass es an Marilyn selbst liegt, wenn niemand ihr Beachtung schenkt, weil sie einfach kein Talent zum Geschichtenerzählen hat. Aber es
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