Du kannst mich einfach nicht verstehen: Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden (German Edition)
könnte durchaus sein, dass ihre Familie ihr selbst dann nicht zugehört hätte, wenn Marilyn in der Lage gewesen wäre, eine gute Geschichte zu erzählen, weil alle es längst als gegeben hinnehmen, dass Jake spannend erzählen kann und Marilyn nicht. Aus denselben Gründen – da es mehr Männer als Frauen gibt, die Vergnügen daran finden, sich vor anderen zu produzieren – haben Frauen wahrscheinlich Schwierigkeiten, sich in den Mittelpunkt zu stellen – unabhängig davon, ob sie sich gut ausdrücken können oder nicht –, denn nach der herrschenden Norm wird von den Männern – und nicht von den Frauen – erwartet, dass sie Aufmerksamkeit für sich fordern.
Unsichtbar erwachsen werden
Die Anthropologen Frederick Erickson und Susan Florio haben eine authentische Konversation aufgezeichnet, die als Vorlage für die Familie in Feiffers Kein Glück mit der Familie gedient haben könnte. Erickson filmte und analysierte das Tischgespräch einer in Boston lebenden italienischen Familie. Der jüngste Sohn war vom Fahrrad gefallen, was er mit einer eindrucksvollen Schramme beweisen konnte. Um ihn zu trösten, erzählten sein Vater und seine drei Brüder ihm – und allen anderen Anwesenden – von eigenen Zweiradunfällen. In ihren Geschichten ging es nicht einfach darum, dass jemand vom Fahrrad fiel, sie erzählten, wie ihre Fahrräder »geschrottet« wurden, und verliehen ihren Stürzen damit einen Hauch von Glanz und Abenteuer. Die längste und eindrucksvollste Geschichte wurde vom Vater zum Besten gegeben, denn ihm gehörte das größte Fahrrad: ein Motorrad. Auf diese Weise gaben die älteren Brüder und Männer der Familie dem Jüngsten eine Lektion in Furchtlosigkeit und im Geschichtenerzählen. Um ein Mann zu sein, musste man nicht nur gefährliche Abenteuer riskieren, man musste auch in Kauf nehmen, dabei Schaden zu nehmen – und dann später vor Publikum, in Gesellschaft anderer Männer und dankbarer Frauen davon berichten.
Während dieses Teils des Gesprächs erzählten die Männer und Jungen Geschichten, während die Frauen – die Mutter, die Schwester und Susan Florio, die eingeladene Wissenschaftlerin – die Rolle des Publikums übernahmen. Florio war eine besonders wichtige Zuhörerin, weil die jungen Männer nicht zuletzt deshalb von ihren tollkühnen Fahrkünsten und halsbrecherischen Stürzen erzählten, um ihr, einer attraktiven jungen Frau, zu imponieren. Als die Schwester des kleinen Jungen berichten wollte, wie sie einmal vom Fahrrad gefallen war, schenkte ihr niemand Beachtung, und sie kam nie über den ersten Satz hinaus, wie die fettgedruckten Zeilen des folgenden Gesprächsauszugs zeigen:
Vater (über die Verletzung seines Jüngsten, Jimmy): Da hast du aber ordentlich was abgekriegt, was?
Mutter: Und wie!
Jimmy: Ja, und hier ist auch noch eine Schramme, neben-
Vater: Du solltest ein Pflaster draufkleben.
Erster Bruder: Hol mal den Verbands-
Dritter Bruder: Den Werkzeugkasten. Wir müssen unser Pflasterkind zusammenflicken. (Er zieht Jimmy gutmütig auf, indem er auf eine Reifenreparatur anspielt.)
Schwester: Ich hab mein Fahrrad auf dem Hügel geschrottet.
Erster Bruder: Das letzte Mal war ich dran. Das war ein klasse Crash, ich hab die Karre völlig geschrottet. Das war das letzte Mal, dass mir das passiert ist.
Vater: Ich muss dir wohl auch einen Helm besorgen.
Erster Bruder (zu zweitem Bruder): Ich glaub, mein bester, mein allerbester Crash, das war, als wir beide zusammengestoßen sind; ich hatte so zwanzig drauf und hab’s total geschrottet.
Dem Fahrradsturz des kleinen Bruders – der »Schrottung« seines Fahrrads – wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber als das kleine Mädchen erzählen will, wie ihr Fahrrad »geschrottet« wurde, wird sie genauso ignoriert wie Marilyn in Feiffers Stück.
Dafür gibt es viele mögliche Gründe. Es könnte sein, dass die Art und Weise, in der das Mädchen versucht, das Wort zu ergreifen, sich von der Vorgehensweise der anderen unterscheidet. Nachdem sie verkündet hatte, dass ihr Fahrrad auf dem Hügel geschrottet wurde, hat sie vielleicht darauf gewartet, dass man sie zum Weitererzählen ermuntert, während die Jungen einfach drauflosredeten, bis sie ihre Geschichte los waren. Vielleicht hat sie zu leise oder zu zaghaft gesprochen. Oder vielleicht ist es einfach so, dass die Familie kein Interesse an den Geschichten eines Mädchens im Allgemeinen und an den Fahrradcrashs eines Mädchens im Besonderen
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