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Du lebst, solange ich es will

Du lebst, solange ich es will

Titel: Du lebst, solange ich es will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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Wohnzimmertisch liegt ein Stapel Flyer. HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN? , steht darauf in fetter Blockschrift, darunter ist Kaylas Schulfoto, dasselbe wie auf dem Kreuz und im Fernsehen oder den Zeitungen. Auf dem Foto lehnt sie an einem Eichenbaum. Aber er sieht irgendwie unecht aus, als wäre der Baumstamm hohl und aus Plastik und würde kaum über die Ränder des Fotos hinausreichen.
    Elizabeth Lamb stellt sich zwischen den Wohnzimmertisch und uns und ist jetzt so nah, dass ich meinen Kopf auf ihre Oberschenkel legen könnte. Gegen ihre High Heels sehen meine Turnschuhe lächerlich aus. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt.
    »Okay«, sagt sie. »Wir müssen uns jetzt alle an den Händen halten, damit ich eure Schwingungen aufnehmen kann.« Wir tun, was sie sagt. Ihr Griff ist jetzt fester, ihre Finger sind kühl und weich. Drew umfasst meine Hand nur leicht. Mir wird bewusst, dass ich seine Hände auf meinem Körper gespürt habe, wir uns aber nie zuvor an den Händen gehalten haben.
    »Gut. Und jetzt schließt eure Augen.« Obwohl ich es nicht möchte, schließen sich meine Augen. Ich frage mich, ob Elizabeth Lamb eine Art Hypnotiseurin ist, ob sie Leute manipulieren kann. »Sagt jetzt dreimal laut hintereinander Kaylas Namen.« Das machen wir, sogar die Cutlers. Kayla, Kayla, Kayla. Mrs Cutler klingt, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. »Stellt euch jetzt vor, Kayla würde hier bei uns sitzen.«
    Gehorsam rufe ich mir Kaylas Bild in Erinnerung. Ich fange mit ihren hohen Wangenknochen an, dem Anflug von Sommersprossen auf ihrer blassen Haut. Ihre Augen, blau und strahlend wie Saphir. Ihre vollen schwarzen Haare. Aber ich schaffe es nicht, das zu tun, was die Hellseherin von uns verlangt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Kayla neben uns sitzt. Denn sie hat nie auch nur eine Minute in ihrem Leben still gesessen.
    Ich zucke zusammen, als Elizabeth Lamb plötzlich zu reden beginnt: »Er ... er hat etwas in der Hand.«
    Ich öffne die Augen einen kleinen Spalt. Sie hat die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt. Ihr Kinn ist locker, als wäre sie bewusstlos und ihr Mund würde von fremder Hand bewegt werden. Ich schiele nach rechts zu Drew. Auch er späht durch halb geschlossene Lider. Ich habe Angst, erwischt zu werden, und mache die Augen wieder zu. Nicht unbedingt wegen der Hellseherin. Wegen den Cutlers. Wir sind es ihnen schuldig, bei der Sache hier mitzuspielen, auch wenn das Ganze wahrscheinlich völliger Unfug ist.
    »Kayla«, sagt Mrs Cutler mit bebender Stimme. »Kayla, bist du das? Bist du das, Liebling?«
    Elizabeth Lamb antwortet ihr nicht. »Ich sehe es. Es kommt auf mich zu. Es ist etwas, das man in der Hand halten und womit man jemandem auf den Kopf schlagen kann.« Sie klingt überhaupt nicht wie Kayla.
    »Ist es ein Baseballschläger? Ein Knüppel? Oder sprichst du von diesem Stein, den sie gefunden haben?« Mrs Cutlers Stimme überschlägt sich beinahe.
    Statt einer Antwort sagt Elizabeth Lamb: »Es ist spät. Spät in der Nacht, vielleicht schon früher Morgen.«
    Ach was. Jeder weiß, wann Kayla verschwunden ist. Das ist kein Geheimnis.
    »Ich bin jetzt in einem Auto«, sagt sie. »Ich habe das Gefühl, jemand hat mich gepackt und ins Auto gelegt.«
    Mrs Cutler schnappt nach Luft.
    Auf einmal kann ich Kayla wirklich sehen. Sie steht hinter Elizabeth Lamb. Ihre Haare sind verdreckt und ihre Augen ganz traurig. Sie sieht mich an. Uns alle.
    Ein Schauder läuft mir über den Rücken.
    Mein Scheitel kribbelt.
    »Jetzt stecke ich irgendwo fest«, sagt Elizabeth Lamb. »Ich kann mich nicht mehr bewegen. Wasser rauscht an mir vorbei.«
    Kayla steht noch immer da. Ihre Lippen bewegen sich, aber ich kann sie nicht verstehen.
    »Soll das heißen, sie ist tot?«, fragt Mrs Cutler mit schriller Stimme.
    Ich höre ein Geräusch, als würde Stoff zerreißen. Ich linse durch die fast verschlossenen Lider. Es ist Mr Cutler, er weint. Mit offenen Augen kann ich Kayla nicht mehr sehen. Und als ich sie wieder schließe, ist sie nicht mehr da. Trotzdem weiß ich, dass ich sie gesehen habe.
    Ich entreiße der albernen Hellseherin meine Hand und stehe auf. Wir sind jetzt so nah beieinander, ich könnte sie küssen - oder beißen. Drew reißt die Augen auf.
    »Das stimmt nicht«, sage ich. Alle starren mich an. »Kayla lebt noch. Ich weiß es.«
    Ich weiß es wirklich. So sicher, wie noch nie etwas zuvor in meinem Leben.



Der neunte Tag
DREW
    Ich sehe zu Gaby. Eigentlich ist vor der Couch

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