Du lebst, solange ich es will
»Etliche Leute kommen in die Pizzeria, die sie nie zuvor betreten haben.«
»Leute, die ihren Lieferwagen umlackiert haben?« Kyles Augen sind eisblau. »Ihren ehemals weißen Lieferwagen?«
»Kyle«, sagt seine Mutter, »wir haben doch beschlossen, dass wir die Sache ruhen lassen.« Sie wendet sich an uns. »Cody Renfrew ist zusammen mit Kyle zur Schule gegangen. Sie nehmen an, dass er Kayla daher kennt. Und so auf die Idee kam, sie ... sie, sie ins Auge zu fassen. Die Polizei hat am Dienstag sein Haus durchsucht.«
»Haben sie etwas gefunden?«
»Nichts Verdächtiges«, sagt Mrs Cutler. »Aber sie haben jede Menge Beweise sichergestellt. Ich nehme an, das geht alles nicht so schnell wie bei CSI. Es wird ein paar Tage dauern, bis sie wissen, ob sie passende DNA-Spuren gefunden haben. Ihr könnt uns trotzdem helfen. Auf eine andere Weise als die Polizei.«
Mr Cutlers Stimme klingt belegt. »Die Bullen haben doch keinen Schimmer. Sie haben den Idioten vernommen, sein Haus durchsucht, aber sie sagen, mehr können sie ohne entsprechende Beweise nicht machen.« Auf seinem Kinn glänzen graue Bartstoppeln. »Aber wenn Kayla noch lebt, müssen wir etwas unternehmen. Bevor es zu spät ist. Deswegen haben wir uns an sie gewandt.« Er deutet mit dem Kopf auf die blonde Frau.
»Gaby, Drew, ich möchte euch Elizabeth Lamb vorstellen«, sagt Mrs Cutler. »Sie ist erst heute in der Stadt angekommen. Sie ist professionelle Hellseherin.«
Ich kann mir bestens vorstellen, was meine Eltern dazu sagen würden. Was ist der Unterschied zwischen einer professio nellen und einer Hobby-Hellseherin? Die professionelle kostet mehr. Sie glauben nicht an Geister, Gespenster oder Hexen. Und auch nicht an Gott. Nur an das, was sie sehen, anfassen und messen können. Sie haben schon menschliche Herzen in ihren Händen gehalten und Stücke aus dem Gehirn geschnitten. Sie glauben nicht daran, dass ein Mensch eine Seele hat. Sie glauben an elektrische Stöße.
Elizabeth Lamb gibt uns die Hand. Ihre Hand ist kühl und glatt und entgleitet mir schon nach einem ganz leichten Drücken.
»Vielleicht habt ihr mich schon mal im Fernsehen gesehen?«, fragt sie.
Wir schütteln beide den Kopf. Allerdings habe ich sie schon mal gesehen. In einer dieser Sendungen über reale Verbrechen. Sie sagte einer Familie, dass ihre sechsjährige Tochter ertrunken war und von einer Art Gitter unter Wasser gehalten wurde. Die Tochter war während eines gewaltigen Regensturms verschwunden. Die Leiche des kleinen Mädchens wurde unter dem Bett eines Nachbarn gefunden. Unter einem Wasserbett. Und der Rahmen - das haben sie im Fernsehen gezeigt - sah wie ein großes Gitter aus. Also hatte Elizabeth Lamb recht, auch wenn die Geister sich etwas undeutlich ausgedrückt hatten.
So hat sie es zumindest damals im Fernsehen erklärt.
»Soweit ich weiß, hast du an dem Abend mit Kayla zusammengearbeitet, Drew? Und du bist die letzte uns bekannte Person, die sie gesehen hat?«
Drew wird steif und nickt.
»Da steckt unheimlich viel Kraft drin, unheimlich viel.« Sie wendet sich an mich. »Und du hast mit ihr die Schicht getauscht, Gaby?«
»Aber ich habe sie an dem Tag nicht gesehen. Und ich weiß auch nicht, warum sie ...«
Elizabeth Lamb hebt eine ihrer schlanken Hände und ich verstumme. »Ja, aber hier besteht eine Verbindung mit Kaylas Sehnsüchten, mit ihren innigsten Sehnsüchten. Ich möchte, dass ihr euch beide einen Moment Zeit nehmt und an Kayla denkt. Schließt dazu bitte eure Augen und stellt sie euch so deutlich wie nur möglich vor. Konzentriert euch auf sie, bis ihr das Gefühl habt, wenn ihr jetzt die Augen öffnen würdet, würde sie vor euch stehen.«
»Das haben wir auch schon gemacht«, sagt Mrs Cutler. »Und dabei sind eine Menge Informationen zusammengekommen, die wir der Polizei geben werden, wenn wir sie heute Nachmittag sprechen.«
»Psst.« Elizabeth Lamb legt tatsächlich den Zeigefinger an die Lippen. »Wir müssen uns jetzt auf Kayla konzentrieren.« Drew wirft mir einen verzweifelten Blick zu und mir ist klar, dass wir beide am liebsten irgendwo anders sein würden. Mr Cutler und Kyle stehen auf und Mrs Cutler deutet uns an, dass wir uns auf die Couch setzen sollen. Ich zwänge mich an Mr Cutler vorbei. Er riecht, als hätte er seit Tagen nicht geduscht und jetzt, wo er steht, kann ich sehen, dass er sich am Bauch mit Essen bekleckert hat. Kyle sieht immerhin ordentlich aus, aber er würdigt uns keines Blickes. Wir setzen uns.
Auf dem
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