Du lebst, solange ich es will

Hosentasche fand man einen Zettel, auf dem er um Verzeihung bat.
    Während viele Freunde und Angehörige von Kayla erleichtert sind, dass ihr mutmaßlicher Mörder tot ist, sind andere verärgert darüber, dass Renfrew nicht preisgegeben hat, wo er ihre Leiche in den Fluss geworfen oder sich ihrer entledigt hat.

 
Der zehnte Tag
GABY
    Nachdem der Wecker verklungen ist, träume ich wieder von Kayla. Sie hat im Traum nach mir gerufen, doch ich konnte sie nicht finden. Als ich sie schließlich sah, war sie zu weit weg. Ich wollte zu ihr rennen, doch jemand schien sie in die andere Richtung zu ziehen. Ich flehte sie an, stehen zu bleiben.
    Gestern Abend habe ich in den Nachrichten davon gehört, dass dieser Typ sich erschossen hat. Nachdem ich aufgestanden und nach unten gegangen bin, lese ich einen längeren Artikel darüber in der Zeitung. Ich bekomme solche Magenschmerzen, dass ich mein Müsli in den Müll kippe, als meine Mom gerade nicht hinsieht.
    In der Schule reden alle nur darüber. Kayla ist tot und auch der Mann, der sie getötet hat. Auf den verwelkten Blumen vor ihrem Schließfach liegen Berge aus frischen Blumen. Jemand hat aus roter Bastelpappe die Buchstaben RIP geschnitten und sie neben das Schließfach geklebt.
    Es ist vorbei, sage ich mir immer wieder, während ich den Unterricht absitze und kein Wort von dem mitbekomme, was die Lehrer erzählen.
    Kayla ist tot. Dieser traurige, verrückte Typ mit den schlechten Zähnen ist auch tot. Er hat sie umgebracht und dann hat er sich selbst getötet. Ende der Geschichte.
    Es sollte sich wie eine Erleichterung anfühlen, tut es aber nicht. Stattdessen habe ich das Gefühl, eine Bleikugel drückt mir auf die Brust und macht mir das Atmen schwer.
    Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass Kayla noch lebt?, denke ich, während ich wie ein Häufchen Elend in Mathe sitze. Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit? Null. Manch einer würde sagen »kleiner als Null«, allerdings würden meine Eltern dann sofort bemerken, dass das im genannten Beispiel nicht möglich ist.
    Kurz bevor ich heute Morgen zur Schule gegangen bin, hat Mom mich umarmt. Dieses Mal habe ich mich nicht dagegen gewehrt und mich in die Arme schließen lassen. Ich habe ihren Mund an meinem Kopf gespürt und ihre leise, ruhige Atmung gehört.
    Schließlich löste sie sich, behielt aber die Hände auf meinen Schultern. »Warst du sehr eng mit Kayla befreundet?«
    Mich erstaunt, dass sie mich das nicht schon früher gefragt hat. Vielleicht lässt es sich jetzt, wo wir alle wissen, was passiert ist, leichter über sie reden.
    »Wir haben nur zusammen gearbeitet.« Ich zwinge mich dazu, ehrlich zu sein. »Jeder in der Pizzeria hat sich gut mit Kayla verstanden.«
    Unsere Freundschaft war nichts Besonderes, denke ich, sage es aber nicht laut. Es war dumm, zu glauben, gerade ich hätte die Fähigkeit, mit Kayla Kontakt aufzunehmen. Ich könnte wissen, dass sie noch lebt.

GERICHTSMEDIZIN BEZIRK MULTNOMAH
    -PROTOKOLL -
    SEKTION DER LEICHE VON Cody Renfrew
    FALL # AC-142-09
    TODESURSACHE:
    Schussverletzung am Kopf
    TODESART:
    Selbstmord
    ANWESENDE:
    Unter der Direktion der Gerichtsmedizin des Bezirkes Multnomah wird am 17. Mai, 14:30 Uhr eine Obduktion durchgeführt. Die Obduktion wird von Dr. Thomas Burgess geleitet. Zur Ausführung ihrer regulären Aufgaben sind Autopsieassistent Mike Smith und die Fotografin Jane Scott während der Untersuchung anwesend. Des Weiteren wohnt Wachtmeister R.E. Thayer von der Polizeiwache Portland der Obduktion bei.
    KLEIDUNG DER LEICHE:
    Ein rotes kariertes Hemd von Target bedeckt Arme, Brust und Rücken.
    Levi’s Jeans bedecken die Hüften und Genitalien. In den Taschen befinden sich ein 25-Centstück, ein 10-Centstück, ein braunes Gitarrenplektrum sowie ein handgeschriebener Zettel mit den Worten »Bitte vergebt mir«.
    Unter der Jeans: eine schwarze Herrenunterhose von Jockey.
    An den Füßen: weiße Strümpfe und blau-weiße Nike-Turnschuhe.
    ALLGEMEINE ÄUSSERE BESICHTIGUNG:
    Eingeliefert wurde eine gut hydrierte, leicht unterernährte Leiche eines hellhäutigen Mannes im Alter von 18 bis 25 Jahren, übereinstimmend mit dem aufgeführten Alter von 21 Jahren. Bei erster Begutachtung fühlt sich die Leiche aufgrund der Lagerung im Kühlfach kalt an; Leichenflecken unveränderlich, an hinterer Rumpfwand und an Druckstellen. Leichenstarre an Hauptgelenken eingetreten. Die Leiche ist 1,82 m groß und hat ein Gewicht von 74 Kilo.
    Die Kopfhaut ist von braunen