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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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wollte, kam Annie in voller Fahrt durch die Pforte gebraust. An ihrer Lenkstange hing eine Tüte von H&M, ihre Haare flatterten im Wind, und fast wäre sie mit Dick Bengtsson zusammengestoßen, der zum Glück noch keinen Schwung hatte. Er stand in den Pedalen und konnte gerade noch das Gleichgewicht halten.
    »Oh!«, rief er, und Annie machte eine Vollbremsung. Fast wäre sie umgefallen, aber er packte ihr Lenkrad, und da standen sie beide voreinander.
    »Das ist ja gerade noch mal gut gegangen«, sagte er.
    »Du kannst von Glück sagen, dass er kein Verkehrspolizist ist!«, rief ich.
    »Entschuldigung«, flüsterte Annie.
    »Es ist ja alles gut gegangen«, sagte er.
    »Übrigens noch was.« Mama kam näher und stellte sich neben ihn und Annie. »Verstehen Sie etwas von Schlangen?«
    »Schlangen? Nein, das kann ich nicht behaupten.«
    »Glauben Sie, Schlangen kommen ins Haus?«
    Dick Bengtsson fingerte an seinem Helm.
    »Sie meinen Kreuzottern? Ob Kreuzottern ins Haus kommen?«
    »Genau. Können die das?«
    »Davon hab ich noch nie was gehört. Glauben Sie, Sie haben eine Schlange im Haus?«
    Mama wirkte verlegen.
    »Nicht direkt, aber unsere Katze ist von einer Kreuzotter gebissen worden.«
    Annie sah sie erstaunt an.
    »Haben wir eine Katze?«
    »Es ist nicht unsere«, erklärte Mama. »Aber sie liegt in der Küche, wurde von einer Schlange gebissen und hat eine geschwollene Pfote, deshalb kümmern wir uns um sie, als wäre sie unsere eigene.«
    »Gebissen von unserer Schlange«, fügte ich hinzu.
    Dick Bengtsson schob seinen Fahrradhelm mit dem Daumen zurück.
    »Ich glaube, das ist ungewöhnlich. Schlangen halten sich am liebsten in der freien Natur auf. Wurde die Katze im Haus gebissen?«
    Mama schüttelte den Kopf.
    »Das ist hier passiert, im Schotter vor der Treppe.«
    Dick Bengtsson musterte die Treppe. Sie hat drei Stufen und ist aus Kalkstein.
    »Ich glaube nicht, dass Kreuzottern da raufkommen. Vor allen Dingen glaube ich nicht, dass sie das möchten. Erst recht nicht, wenn es eine Katze im Haus gibt.«
    »Es ist nicht unsere Katze«, sagte ich. »Sie ist erst bei uns eingezogen, nachdem sie gebissen wurde.«
    »Ich glaube, Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Dick Bengtsson. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Schlangen Katzenbesuch mögen. Ich melde mich also morgen.«
    Dann stieg er auf sein Rad und verschwand durch die Pforte.
    »Es gibt T-Bone-Steaks«, sagte Mama, »der Grill ist jetzt wohl auch heiß.«
    Später aßen wir unter der Eiche, und allmählich wurde es dunkel. Mama und Annie redeten die ganze Zeit über Klamottenläden und Kaufhäuser, in denen Annie gewesen war. Nach einer Weile wurde mir das Geschwafel zu blöd, und ich setzte mich auf den Steg.
    Es war diesig, und schließlich ging ich in mein Zimmer, streckte mich auf dem Bett aus, hörte Musik und schaute zur Decke.
    Als Morgan nach Hause kam, schloss ich meine Tür und stellte die Musik lauter. Dann zündete ich die Kerze an – ich hatte noch keine Leselampe am Bett –, und mit der Kerze in der Hand ging ich in die Abseite, zog die Kommodenschublade heraus und betrachtete die Schlange. Sie lag ganz still und sah aus, als würde sie schlafen.
    »Gute Nacht«, flüsterte ich.
    Die Schlange antwortete nicht.

    7

    Ich wurde von rhythmischen Ballgeräuschen wach, stand auf und schaute aus dem offenen Fenster. Morgan stand auf der Veranda. Er trug nur schwarze Boxershorts und sonst nichts und kickte den Ball von einem Fuß zum anderen. Auf dem Tisch stand ein Teller, von dem er Joghurt gegessen hatte, und neben dem Teller lag ein Comicheft. Ich pickte eine tote Fliege vom Fensterbrett auf und ließ sie auf ihn hinunterfallen. Er bemerkte nichts, und ich dachte, dass ich die Schlange doch auf seinen Schädel fallen lassen sollte.
    Aber was würde passieren, wenn ich die Schlange auf Morgans Kopf fallen ließe?
    Erstens war es nicht sicher, dass er gebissen werden würde, zweitens würde die Schlange sofort vor seinen Füßen landen, drittens würde er sich einen Stuhl schnappen und ihr den Kopf einschlagen.
    Ich wollte nicht, dass der Schlange etwas geschah. Es war nicht ihre Schuld, dass sie eine Schlange war, und auch nicht, dass sie giftig war. Es war nicht ihre Schuld, dass sie sich verteidigte, als die Katze sie mit ihren scharfen Krallen angriff. Ich wollte sie nicht tot sehen.
    Die Schlange brauchte ein Frühstück.
    Ich hatte gehört, dass Schlangen von Mäusen und Spinnen leben. Mäuse hatte ich keine gesehen, aber der

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