Du musst die Wahrheit sagen
Sense ab und setzte mich neben Karl Berger auf die Treppe. Sie lag noch immer im Schatten, aber die Sonne kroch langsam und zielsicher den Gartenweg entlang.
»Darf ich mir ein Glas Wasser holen?«
Der Alte legte das Buch weg.
»Nimm dir, was du möchtest. Im Kühlschrank ist Tee. Möchtest du einen Keks?«
»Danke, gern.«
»Die Kekse stehen auf der Spüle. Maryland Cookies. Heute Morgen haben sie einen alten Jazzsong im Radio gespielt, ›Maryland,my Maryland‹. Als Kind habe ich die Melodie um Weihnachten herum gesungen. Aber damals hieß das Lied ›O Tannenbaum‹! Kannst du singen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was bedeutet ›Tannenbaum‹?«
»Tanne. Du lernst kein Deutsch?«
Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Heutzutage lernt niemand mehr Deutsch. Alle lernen Spanisch«, sagte ich und stand auf.
Ich ging in die Küche, öffnete die Kühlschranktür und nahm die Teekanne heraus, schenkte mir ein Glas ein, leerte es und füllte es noch einmal, nahm drei Kekse aus dem Päckchen und kehrte zurück zu dem Alten. Als ich aus der Tür trat, drehte er ein bisschen den Kopf und rief:
»Du kannst mir auch meine Medizin mitbringen! Dieselbe Dose wie gestern!«
Also ging ich mit dem Glas in der einen und drei Keksen in der anderen Hand ins Wohnzimmer.
Die Medizindöschen standen unverändert da. Die Frau mit der komischen Mütze stand auf den Kuverts und den gelben Rezeptformularen, und das Flugzeug kreiste zwischen den Wolken über den dreien im Garten unter den blühenden Apfelbäumen.
An der Wand ist ein Wandgemälde, genauso groß wie das in unserem Wohnzimmer. Aber während auf unserem drei nackte Frauen auf einem Felsen abgebildet sind, sind es auf Bergers Gemälde drei nackte Männer. Man kann erkennen, dass die beiden Bilder vom selben Künstler gemalt wurden.
Ich nahm das Döschen mit, ging wieder hinaus, gab es dem Alten und setzte mich auf eine Treppenstufe.
»Du hast natürlich die Fotografien gesehen?«
»Ja.«
»Meine Geschwister und ich. In dem Flugzeug darüber aufdem Bild sitze ich. Das Foto wurde im Mai 1939 gemacht. Ich hatte gerade meine Ausbildung als Jagdpilot beendet.«
Er hob die linke Hand und krümmte die drei Finger, die ihm noch geblieben waren. »Damals habe ich die hier verloren. Du weißt doch sicher, was im September 1939 geschah?«
»Ja.«
Er nickte, legte beide Hände auf den Stock, beugte sich vor und stützte das Kinn auf die rechte Hand.
»Im Keller steht ein elektrischer Rasenmäher. Glaubst du, du kannst das Gras zusammenharken und dann noch einmal mit dem Rasenmäher drübergehen?«
»Klar«, sagte ich. Den Mund voller Maryland Cookies stand ich auf und ging in den Keller, fand den Rasenmäher, der unter einer schwarzen Plastikplane versteckt war, trug ihn die Kellertreppe hinauf und zog an der Schnur. Er sprang beim ersten Ruck an.
Als ich fast fertig war mit dem Garten des Alten und den Rasenmäher zum letzten Mal unten am See wendete, entdeckte ich einen Frosch im Gras. Er war nicht viel größer als ein Stückchen Zucker, nur braun. Er hüpfte ein Stück, kam aber nicht besonders weit. Ich nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn und stellte mir vor, ich würde die Kommodenschublade öffnen, ihn hineingleiten lassen und die Schublade wieder bis auf einen Millimeter schließen, damit die Schlange Luft bekam, während sie den kleinen Frosch tötete und auffraß.
Ich setzte ihn aber zurück ins Gras, und er hüpfte davon, hüpf-hüpf. Dann war er weg. Ich mähte das letzte Stück und ging zur Treppe.
Die Sonne hatte jetzt die Hausfront erreicht, und es gab keinen Schatten mehr, nur noch unter dem größten Apfelbaum. Dorthin war der Alte umgezogen.
Er saß in einem großen dunkelroten Sessel mit Kissen im Rücken. Seine Augen waren geschlossen, und es sah aus, als würdeer schlafen. Ich wollte gerade davonschleichen, da öffnete er die Augen.
»Bist du fertig?«
»Ja.«
»Gut. Jetzt bekommst du deinen Lohn.«
Mühsam richtete er sich auf und tastete mit zitternder Hand nach dem Portemonnaie in seiner Gesäßtasche. Nachdem er es hervorgeholt hatte, reihte er Geldscheine auf seinem Knie auf. Dann strich er sie zusammen und hielt sie mir hin.
»Bitte sehr.«
»Das ist zu viel«, behauptete ich.
»Ich hab doch gesehen, wie du in der Hitze geschuftet hast. Du hast dir jede einzelne Krone redlich verdient.«
Ich bedankte mich, so gut ich konnte. Er wedelte mit der Hand, die noch alle Finger hatte, und wollte mir wohl bedeuten, dass es nichts mehr zu
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