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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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und versuchte zu begreifen, was er wollte.
    Er wurde ungeduldig und zeigte mit der Drei-Finger-Hand, ohne den Kopf zu drehen, zu dem Tischchen.
    »Auf den Rezepten!«
    Ach so, er meinte den Frauenkopf mit der seltsamen Mütze. Ich hob die kleine Statue vom Tisch und brachte sie dem Alten.
    Er streckte eine dünne, zitternde Hand aus, schloss die Finger um die Figur, ohne weder mich noch das anzusehen, was er in der Hand hielt.
    »Die habe ich von meiner Schwester bekommen, als ich mit der Ausbildung fertig war. Ich habe sie immer in der Tasche gehabt, auch bei meinen beiden Notlandungen. Auch als ich meine Finger verloren habe. Das war in Norwegen.«
    Er atmete schwer. Vor ihm auf dem Tisch lag das Gewehr, noch genau so, wie ich es abgelegt hatte. Die Tasche war offen. Mit einer gewissen Mühe schob er die kleine Figur in die Tasche seines Morgenmantels.
    »Es ist keine Katze da«, sagte ich, »jedenfalls nicht im Garten.«
    Er schien nicht mehr an der eventuellen Katze interessiert zu sein.
    »Meine Schwester war ein guter Mensch. Nach dem Krieg ist sie als Krankenschwester nach Afrika gegangen. Sie ist in derselben Woche im Kongo gestorben, als Dag Hammarsköld umgebracht wurde. Ihre Uhr und fünf Dollar, das war alles, was ihr Mörder erbeutet hat. So viel war ihr Leben wert, wenn es darauf ankommt. Fünf Dollar und eine billige Armbanduhr.«
    Er rückte seine Brille zurecht, warf mir einen Blick zu und seufzte.
    »Mein Bruder war ein Schwein. Was ich selbst gewesen bin, darüber kann man streiten. Meine Schwester war mit Sophie Scholl befreundet.«
    Er seufzte wieder, beobachtete mich und schien zu erwarten, dass ich etwas sagte. Aber ich schwieg.
    »Nimm das Gewehr und steck es in die Tasche. Morgen kommt der Pflegedienst.«
    »Waren Sie in Norwegen Pilot?«, fragte ich, hob das Gewehr hoch und versuchte, den Lauf von Schaft und Kolben zu lösen.
    »Bin in den schwedischen Bergen notgelandet, kam ins Krankenhaus und wurde interniert. Heiratete Astrid. 1953 bekam sie Kinderlähmung und starb im Respirator. Jetzt liegt sie bei ihren Eltern in Lycksele begraben.«
    Er schwieg eine Weile, ehe er fortfuhr.
    »Damals waren die Häuser hier draußen noch billig, weil die Gegend verkehrstechnisch noch nicht an die Stadt angebunden war. Ich war Unternehmer, hab Rohre verkauft. Es waren gute Zeiten für Leute, die Baumaterial an mein zerbombtes Heimatland verkauften. Mein Bruder war nach Argentinien geflohen, meine Schwester war im Kongo, meine Eltern waren tot. Ich war allein. Da zog Harry hierher und wurde mein Nachbar in dem Haus, in dem du jetzt wohnst. Und dann kam Ellen und heiratete Harry. Das ist alles lange her. Es geht so schnell vorbei.«
    Dann bemerkte er, dass ich versuchte, die Waffe zu zerlegen. Er richtete seine Brille.
    »Es ist ein Bajonettverschluss. Mach eine halbe Umdrehung und zieh den Lauf heraus.«
    Ich tat es, und der Lauf löste sich vom Schaft.
    »Kann man immer nur einen Schuss abgeben?«, fragte ich, während ich Lauf und Stock in die Tasche legte.
    »Im Magazin sind zehn Kugeln, aber ich lade immer nur eine. Sonst kriegt man leicht einen Schuss ab, wenn man die Waffe zerlegt und vergessen hat, das Magazin zu leeren.«
    Ich verschloss die Tasche.
    »Soll ich sie nach oben bringen?«
    »Das ist wohl besser, wo morgen der Pflegedienst kommt. Mir ist schon eine schöne Uhr und Astrids Ehering geklaut worden.«
    »Morgen ist Sonntag«, sagte ich. »Kommen die auch sonntags?«
    Der Alte sah mich erstaunt an.
    »Ist morgen Sonntag?«
    »Ja, heute ist Samstag.«
    Berger war so verblüfft, dass sein Mund offen stehen blieb.
    »Ich war ganz sicher, dass morgen Montag ist.«
    »Morgen ist Sonntag«, wiederholte ich.
    Er seufzte.
    »Ja, dann kommen sie nicht. Aber du kannst die Tasche trotzdem nach oben bringen.«
    Doch dann überlegte er es sich anders.
    »Oder stell sie hinter die Tür. Ich sitze hier, wenn sie kommen. Die Tasche können sie nicht klauen, wenn ich sie im Auge habe. Setz dich.«
    Er zeigte auf den Stuhl, der ihm gegenüber stand, und ich setzte mich.
    »So, so, dein Bruder spielt also Fußball«, sagte er, nahm die Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel seines Morgenmantels.
    »Er will Profi werden.«
    »Profi!«, gluckste der Alte. »Was willst du denn werden?«
    »Weiß nicht.«
    »Nein, so was weiß man nicht. Später glaubt man, dass man es weiß, aber man weiß es auch dann nicht. Man glaubt es bloß. Mein Vater ist ohne eine einzige Schramme durch den Ersten Weltkrieg gekommen,

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