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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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rief ich.
    Er antwortete von oben.
    »Bist du es, Tom?«
    »Ja.«
    Ich lief die Treppe hinauf.
    Er lag auf dem Sofa neben dem Tisch mit den Büchern. Ich konnte ihn kaum sehen, denn er hatte kein Licht angemacht.
    »Ich bin’s, Tom.«
    Seine Stimme klang müde.
    »Wer sollte es denn sonst sein?«
    Ich erzählte ihm von dem Geschepper bei den Mülltonnen.
    »Das sind die Dachse«, erklärte der Alte. »Hier gibt esDachse, die sind so groß wie Schäferhunde. Kürzere Beine, aber sonst wie Schäferhunde. Die suchen nach Fressen in den Mülltonnen. Manchmal kippen sie sie um. Sie sind auch eine Art Gesellschaft für mich.«
    »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Ich streckte einen Arm aus und half ihm, sich aufzusetzen.
    »Na, was das wohl ist«, sagte er, als ich den Laptop auf dem Tisch vor ihm aufgestellt, den Bildschirm aufgeklappt hatte und nach einer Steckdose suchte.
    »In der Ecke«, sagte Berger, der verstand, was ich suchte.
    Ich stellte die Verbindung her, setzte mich neben den Alten auf das Sofa, startete den Laptop und dann den Film. Im Licht des Monitors beobachtete ich Bergers Gesicht. Sein Mund stand offen. Er schüttelte den Kopf, richtete die Brille und beugte sich so weit vor, dass seine Nase fast den Bildschirm berührte. Seine Haare standen ihm zu Berge. Er zeigte mit der Hand, an der noch alle Finger vorhanden waren, auf den Monitor.
    »Den Film hab ich mit meinen Geschwistern in Wien gesehen. Sie reden über die Elefanten, oder? Sie reden darüber, dass die Elefanten wissen, wann sie sterben werden, und dass sie sich zu einem Ort tief im Dschungel begeben, wenn ihre Zeit gekommen ist.«
    Er stieß einen Laut aus, der wie Husten klang, aber es sollte wohl ein Lachen sein.
    »Meine Geschwister und ich haben diesen Film geliebt. Wie ist es bloß möglich, dass drei Personen, die so ungleich sind, denselben Film lieben, kannst du mir das erklären, Tom?«
    Dann drückte er die Nase wieder fast an den Bildschirm, und von Zeit zu Zeit rief er: »Daran erinnere ich mich! Ich erinnere mich!«
    Aber als wir zu der Stelle kamen, wo Tarzan zum ersten Mal auftaucht, hatte er keine Kraft mehr. Er lehnte sich zurück.
    »Meine Augen sind zu schlecht«, jammerte er. »Können wir den Rest ein andermal anschauen?«
    Er atmete schwer. Vielleicht lag es an der Dunkelheit, die uns umgab, dass ich es so deutlich hörte.
    »Kommt sie morgen?«
    »Wer?«
    »Deine Mutter. Zum Haareschneiden.«
    »Das ist noch nicht sicher«, log ich. »Sie will den Salon eröffnen, und dann ist da noch das Haus. Sie sucht grad Sofas aus. Manche mit Leinenbezug, andere mit Leder. Wir haben auch einen neuen Fernseher gekauft. Sie hat alle Händevoll zu tun.«
    Die Atmung des Alten wurde noch schwerer. Er senkte die Stimme, sie klang traurig, flehend.
    »Aber sie wird doch wenigstens einen Augenblick Zeit haben?«
    »Ich bin nicht sicher, ich werde sie fragen.«
    Seine Stimme klang wie die eines Kindes, das um Süßigkeiten bettelt.
    »Hast du denn noch nicht gefragt?«
    »Doch, aber sie wusste es nicht.«
    Der Alte ergriff meine linke Hand mit seiner rechten. Sein Händedruck war kräftiger, als ich es ihm zugetraut hatte. Er ließ sich an der Sofarückenlehne entlanggleiten, und sein Kopf landete auf meiner Schulter.
    »Du musst wissen, Anna ist meine Tochter.«
    Einen Augenblick glaubte ich, er mache einen Witz, dann begriff ich, dass er es ernst meinte. Mein Mund wurde ganz trocken.
    »Wie meinen Sie das?«
    Ich hatte Herzklopfen.
    »Anna ist meine Tochter, und ich bin dein Großvater.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Ich bin dein Großvater«, wiederholte er. »Und ich glaube, Anna weiß nicht, dass ich ihr Vater bin. Glaubst du, sie weiß es?«
    Seine Stimme klang auf eine ruhige Art flehend, als wünschte er, dass ich seiner Vermutung widersprach.
    »Sie hat nie von ihrem Vater gesprochen, nur dass sie nicht weiß, wer es ist, und dass Großmutter sich geweigert hat, es ihr zu sagen.«
    »Ich bin das!«, rief der Alte mit überraschend kraftvoller Stimme. »Was meinst du, kannst du ihr erzählen, dass ich ihr Vater bin?«
    Meine Gedanken standen still, ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
    »Werd’s versuchen.«
    »Das ist nett von dir«, sagte er. »Weissmüller war Olympiasieger. Kann mich nicht erinnern, wie viele Medaillen er bekommen hat, aber es waren viele. Schwimmst du Freistil?«
    »Ja.«
    Der Alte gluckste.
    »Das möchte ich sehen! Vielleicht kannst du es mir morgen hier vor meinem Grundstück

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