Du musst die Wahrheit sagen
Er hatte eine schöne Stimme, und Mama beeilte sich, das zu bejubeln, sobald sie ihre Schnäpse gekippt hatten.
»Du hast ja eine tolle Stimme!«
Dick sah geschmeichelt aus.
»Singe im Polizeichor, das hinterlässt Spuren. Im Juni waren wir auf Tournee in Dänemark. So was macht Spaß. Fördert die Zusammenarbeit.«
Er prostete mir zu.
»In welche Schule wirst du gehen, Tom?«
»Brantingsbergsschule.«
Über Dicks Gesicht ging ein Leuchten.
»In die geht auch meine Tochter Sara, sie kommt in die Neunte.«
Mama setzte die Miene auf, die sie immer machte, wenn wir über meine Zukunft sprachen.
»Ist das eine gute Schule?«
Dick seufzte.
»Für manche vielleicht. Für die meisten – kaum. Da gibt es viel Randale.«
Er sah bekümmert aus und schien darüber nachzudenken, wie viel Randale es in der Schule seiner Tochter gab.
»Morgan und Annie haben sich fleißig informiert, bevor sie sich für eine Schule entschieden haben.«
Mama drehte sich zu mir um.
»Aber du bist nicht richtig in Gang gekommen. Na, es wird schon gut gehen. Alle meine Kinder sind gut in der Schule.«
Annie riss einem Krebs den Rückenpanzer ab. Ihre Stimme klang beleidigt.
»Morgan? Gut? Wie kannst du behaupten, er sei gut in der Schule?«
Mama suchte verzweifelt nach einer Formulierung, die nicht betonte, dass Morgan so intelligent war wie eine Mörderschnecke.
»Berger möchte wissen, ob du ihm die Haare schneidest«, sagte ich und nahm einen Krebs.
Mama starrte mich an.
»Darüber haben wir doch schon gesprochen, oder nicht?«
»Er möchte es aber gern«, sagte ich. »Ich war vor einer Weile bei ihm drüben, und er hat schon wieder gefragt.«
Mama sah sauer aus.
»Heute Abend reden wir nicht mehr über Berger.« Ihre Stimme klang bereits ein wenig beschwipst.
Annie nahm eine Scheibe Toastbrot unter dem Handtuch hervor und legte ihren geschälten Krebs darauf, garnierte ihn mit einem Dillzweig und begann, den nächsten Krebs zu schälen.
»Das sieht lecker aus.« Dick suchte Annies Blick. »Ich glaube, so mache ich es auch.« Und dann ahmte er jeden Handgriff nach.
»Willst du nichts essen?«, fragte Mama mich.
»Er möchte wissen, ob du ihm die Haare schneidest«, beharrte ich.
Jetzt wurde sie wütend.
»Ich will heute Abend kein Wort mehr über Berger hören.«
»Aber er möchte, dass du ihm die Haare schneidest.«
»Schneide du sie ihm doch!«
Ihre Stimme wurde lauter, während sie gleichzeitig versuchte, leiser zu sprechen. Heraus kam ein Zischen.
»Kein Wort mehr über Berger.«
»Er will doch nur, dass du ihm die Haare schneidest. Du bist doch Friseurin.«
»Berger ist kein guter Mensch.«
»Woher weißt du das?«
»Still!«
»Woher weißt du das?«
»Halt den Mund!«
»Woher weißt du das?«
»Wir reden nicht mehr über Berger.«
Ich stand auf und ging weg.
Zuerst ging ich in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Was ist nötig, um sich ein Ohr abzuschneiden? Überzeugung? Überzeugung von was?
Nach einer Weile fiel mir Johnny Weissmüller ein, und ich ging in Mamas Arbeitszimmer. Es stellte sich heraus, dass Weissmüller in der Zeit, als die Filme noch schwarz-weiß waren, Tarzan gespielt hatte.
Mama hatte sich eine gute Internetverbindung installieren lassen, und ich brauchte nicht lange, bis ich das gefunden hatte, was ich gesucht hatte. Ich lud sie herunter und brannte »Tarzan – the ape man.« Das dauerte ein bisschen. Dann rief ich Berger an.
»Hier ist Tom.«
Seine Stimme klang, als hätte er geschlafen.
»Tom? Ach so. Tom! Was willst du?«
»Ihnen etwas zeigen. Sind Sie wach?«
»Ich schlafe zurzeit so wenig, dass man sagen kann, ich bin immer wach. Was willst du mir zeigen?«
»Was Schönes. Kann ich rüberkommen?«
»Komm nur.«
Ich nahm Mamas Laptop samt Kabel unter den Arm, und als ich nach draußen kam, sang Dick wieder. Es war fast dunkel, und sie hatten die Kerzen auf dem Tisch angezündet.
Annie schlug vor, dass sie das Trinklied noch einmal singen sollten, und als ich durch die Pforte ging, sangen alle drei, Mama versuchte, Annie zu übertönen.
Auf Bergers Grundstück hörte ich Geschepper von den Mülltonnen, und das Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals. Ich konnte nicht erkennen, was es war, aber dann beruhigte ich mich und ging weiter zur Haustür.
Berger war nicht heruntergekommen, um die Tür abzuschließen. Ich öffnete sie und trat ein. Der Gestank nach den Abfällen in der Küche war jetzt noch stärker, wo die Haustür nicht offen stand.
»Hallo!«,
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