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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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und zwar nicht etwa, weil er sich gedrückt hat. Wenn man Pech hat, ist das Leben in dem Moment zu Ende, wenn man es am wenigsten erwartet. Kinderlähmung. Heutzutage heißt das Polio. Damit rechnet man nicht, wenn man jung verheiratet ist. Man rechnet mit so vielem nicht. Es spielt keine Rolle, wie viel Fantasie du hast, du weißt nichts über die Zukunft. Und was aus uns wird, wer bestimmt das? Du selber, glaubst du? Tja, darüber kann man diskutieren. Bist du gut in der Schule?«
    Er setzte sich die Brille wieder auf.
    »Ja.«
    »Was ist dein Lieblingsfach?«
    »Mathe.«
    »Das ist gut. Ich konnte auch gut rechnen. Wir haben Griechisch und Latein gelernt. Das lernt ihr heutzutage wohl nicht mehr?«
    »Nein.«
    Er nickte.
    »In deinem Alter konnte ich ganze Passagen aus der Ilias auswendig. Und wozu? Wer im Meer vor Kirkenes notlandete, der hatte nur wenige Minuten Zeit, dann erfror er, wenn er die Landung überlebt hatte. Hätte ich mich da an Homer erinnern sollen?«
    Er gab einen Ton von sich, der wie Niesen klang, bevor er weiterredete.
    »Und all der andere Quatsch, mit dem ich mich beschäftigt habe. Wozu brauchte ich das? Was hatte das für einen Sinn? Das ist eine alberne Frage, aber je älter man wird, umso albernere Fragen stellt man. Mein Griechischlehrer behauptete, dass der Mensch ein tragisches Wesen ist. Ich gebe ihm recht. Es gibt nichts Lächerlicheres als einen Menschen, der glaubt, dass er sein Leben selbst in der Hand hat. Ist dir schon einmal ein lächerlicher Mensch begegnet?«
    »Weiß nicht.«
    Er beugte sich etwas vor, als wollte er mir etwas Vertrauliches erzählen.
    »Du solltest das Mädchen vom Pflegedienst sehen, das sie mir montags schicken. Sie ist hundertprozentig eine Parodie eines solchen Menschen. Allein die Art, wie sie Kaugummi kaut! Und die Art, wie sie mit ihren Freunden telefoniert, während sie meine Küche putzt. Die sollte man im Fernsehen zeigen. Die Leute sollten wissen, was sie erwartet, wenn der Pflegedienst sie in seine faulen Klauen kriegt. Man wird von einemMädchen gepflegt, das kaum in der Lage ist, sich durch Donald Duck zu buchstabieren. Liest du Donald Duck?«
    »Ja.«
    Berger schüttelte langsam den Kopf.
    »Aber weißt du, wer noch lächerlicher ist als hundert Kaugummi kauende Mädchen vom Pflegedienst?«
    »Nein.«
    Er hob seine Linke und zeigte mit dem Daumen auf seine Brust. Ich betrachtete die Hand mit den drei Fingern.
    »Ich finde Sie nicht lächerlich«, sagte ich.
    Der Alte legte den Kopf schief und sah fast freundlich aus.
    »Das ist nett von dir. Könntest du mir bitte die Treppe hinaufhelfen? Ich schaffe das zwar allein, aber ich würde mich freuen, wenn du mir hilfst.«
    Also half ich ihm die Treppe hinauf, und oben angekommen, wollte er auf dem Sofa vor dem Tisch mit den aufgeschlagenen Atlanten sitzen. Auf dem Weg in das obere Stockwerk hatte er geschwiegen. Jetzt schien er an einen Gedanken anzuknüpfen, den er schon im Wohnzimmer entwickelt hatte.
    »Eigentlich hatte ich Arzt werden sollen wie mein Vater. Aber auf dem Gymnasium hatte ich einen Schulkameraden, den ich bewunderte. Er war die Leuchte der Klasse und wollte Pilot werden. Ich änderte meine Zukunftspläne und wurde auch Pilot. Mein Kamerad starb über London, und ich kam nach Norwegen. Jetzt sitze ich hier über Karten, die ich nicht mal mehr mit dem Vergrößerungsglas richtig lesen kann.«
    Er tastete nach einem Kissen, steckte es hinter seinen Rücken und lehnte sich zurück, indem er den Stock auf den Tisch neben die aufgeschlagenen Bücher legte.
    »Mach bitte die Tür zu, wenn du gehst. Und vergiss nicht, deine Mutter zu fragen, ob sie mir die Haare schneiden will.«

    12

    Als ich in unseren Garten zurückkehrte, saßen Dick und Mama so, dass sie auf den See schauen konnten. Annie hatte ihnen gegenüber an der Längsseite des Tisches Platz genommen, und ich stellte den Stuhl so, dass ich mich gegen die grobe Rinde des Eichenstammes lehnen konnte.
    Mitten auf dem Tisch stand eine Schüssel, die überquoll von Krebsen. Einige waren heruntergefallen und lagen nun auf der rot karierten Tischdecke, als wollten sie in den See zurückkrabbeln. Unter einem blau karierten Handtuch lag lauwarmes Toastbrot, Mama holte Bierflaschen aus dem Eimer und goss sich und Dick Schnaps in beschlagene Gläser.
    Annie und ich tranken Cola.
    »Also«, sagte Dick, »dann ist es wohl so weit?«
    Und er stimmte ein Trinklied an.
    Während Dick sang, sah er mal Mama, mal Annie an, aber meistens Annie.

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