Du musst die Wahrheit sagen
jedoch nicht, was sie sagte. Dann schloss sie die Tür. Morgan begann zu schreien, verstummte aber gleich wieder.
Mama kam mit einer Packung Watte in die Küche. Ich riss ein Stück ab und steckte es mir in das linke Nasenloch.
»Er hat mir die Hälfte von dem Geld weggenommen.«
Mama verschwand in der Diele und rannte die Treppe hinauf, indem sie zwei Stufen auf einmal nahm. Sie klopfte an Morgans Tür, öffnete sie sofort und machte sie hinter sich zu. Nach einer Weile kehrte sie mit dem Geld zurück. Und einen Augenblick später brachte Annie mir meine Unterhose, Boxershorts, Strümpfe, Schuhe und ein T-Shirt.
»Warum hast du dieses komische Bild an der Wand hängen?«,fragte sie, während sie die Kleidung auf den Fußboden neben mich legte.
»Van Gogh«, sagte ich. »Unsere Kunstlehrerin hat gesagt, van Gogh ist der Größte.«
Da kam Dick. Er klopfte laut an die offene Haustür.
»Jemand zu Hause?«, rief er, als er die Diele betrat.
»Wir sind in der Küche!«, rief Mama. Dick tauchte in der Küchentür auf. Er trug schwarze Jeans und einen rotweinfarbenen Rugby-Pullover mit ordentlich gebügeltem weißem Kragen. Die Pulloverärmel hatte er aufgerollt. Als er mich erblickte, verschwand seine Fröhlichkeit so schnell, dass sie mit einem leisen Knall auf den Boden zu fallen schien. Die Katze hob den Kopf und musterte ihn.
»Oje, was ist passiert?«
Dick sah von Mama zu Annie und von Annie zu mir und dann wieder zu Mama.
»Morgan und Tom hatten Zoff«, erklärte Mama.
Dick war mit zwei Schritten bei mir und beugte sich über mich.
»Du hast ordentlich was abgekriegt.«
»Nicht der Rede wert«, sagte ich. »Ich bin es gewohnt.«
Dick runzelte die Stirn.
»Du bist es gewohnt?«
Er suchte Mamas Blick.
Ich stand auf. Mein Kopf fühlte sich schwer an. Die Badehose klebte an den Schenkeln, und mir war kalt.
»Wie geht es dir?«, fragte Dick.
»Bin mit dem Kopf im Fallen gegen den Schrank geknallt«, sagte ich.
»Du bist ein bisschen blass«, sagte er. »Vielleicht solltest du dich eine Weile hinsetzen?«
»Nein«, sagte ich und wollte mich bücken, um die Hose aufzuheben. Aber in dem Moment wurde mir schwindelig, und ich hatte das Gefühl, ich müsste mich übergeben.
»Bist du sicher, dass du dich nicht setzen willst?«, fragte Dick. »Du bist ja kreidebleich.«
Ich setzte mich mit der Jeans in der Hand auf einen Küchenstuhl.
»Es geht schon«, sagte ich.
»Hat er dich mit der Faust geschlagen?«, fragte Dick.
»Womit sollte er sonst schlagen?«, fragte ich zurück. »Er schlägt immer mit der Faust.«
»Du solltest ein Glas Wasser trinken«, riet mir Dick.
Wir hörten Morgan die Treppe herunterpoltern.
»Morgan!«, rief Mama. »Morgan!«
Aber er reagierte nicht und rannte aus dem Haus. Mama lief ihm hinterher und schrie ihm von der Treppe aus nach:
»Morgan! Komm zurück! Ich will mit dir reden!«
Es war nicht Morgans Art, auf Mama zu hören, nur weil sie mit ihm reden wollte. Mama kehrte in die Küche zurück.
»Er ist abgehauen!«
Dick steckte die Hände in die Jeanstaschen, verzog den Mund, ordnete seine Gesichtszüge und versuchte, freundlich und einladend auszusehen.
»Möchtest du mitkommen? Wir wollen nach Dalarö. Kleiner Segeltrip. Es hat aufgehört zu regnen.«
Ich hatte ein Gefühl im Kopf, als steckten durchgeschwitzte Sportsocken und Großmutters Kuckucksuhr darin.
»Ich bleib lieber zu Hause.«
»Was willst du machen, wenn er wiederkommt?«, fragte Annie.
»Im Keller ist eine Axt«, antwortete ich.
»Das sagt man so dahin«, sagte Dick. »Aber man sollte es lieber nicht aussprechen, selbst wenn man es manchmal denkt.«
15
Annie blieb zu Hause, Mama und Dick verschwanden. Ich ging in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und bereute, dass ich die Schlange freigelassen hatte. Hätte ich sie noch gehabt, hätte ich sie in Morgans Bett legen können. Er wäre in Panik geraten und hätte geglaubt, dass er sie selbst ins Haus gebracht hat. Ich lag auf dem Bett, unterhielt mich mit van Gogh und dachte nach. Die Schlange wäre perfekt gewesen. Sie hätte Morgan in den Schwanz gebissen und nicht wieder losgelassen. Total perfekt. Ich sah ihn vor meinem inneren Auge, wie er da stand, breitbeinig, zwischen seinen Beinen hing die Schlange, und er hatte keine Ahnung, wie er sie wieder loswerden sollte.
Nach einer Weile kam Annie nach oben. Ich hatte meine Tür zugemacht, und Annie klopfte, bevor sie sie öffnete.
»Wie geht es dir?« Sie steckte den Kopf herein, ohne das
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