Du musst die Wahrheit sagen
dem Schwänzen aufhören«, sagte sie.
»Kannst du ihm die Haare schneiden?«
»Vielleicht. Ist er schon sehr alt?«
»Er hat nicht mehr viele Haare. Es dauert also bestimmt nicht lange.«
Annie nahm ihre Armbanduhr aus der Tasche und befestigte sie am linken Handgelenk. Sie warf einen Blick darauf.
»Gleich kommt Saida. Heute kann ich also nicht.«
»Und wann dann?«
»Weiß ich nicht. Versprich mir doch, nicht mehr zu schwänzen. Mama hat so schon genug Sorgen. Wenn du wieder anfängst zu schwänzen, bekommt sie wieder Magenschmerzen.«
»Ich sage ihm, dass du ihm vielleicht morgen die Haare schneidest.«
Annie nickte.
»Aber es ist nicht sicher. Es geht nur, wenn ich Zeit habe.«
Sie stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Dann drehte sie sich um und musterte das Zimmer und kam wieder zu mir. Ich saß im Bett mit dem Rücken an der Wand.
»Tarzan.« Sie beugte sich vor und küsste mich schnell und leicht auf die Stirn. »Hast du deine Jane?«
»Ich habe einen Gorilla«, sagte ich. Dabei klopfte ich an die Wand zwischen meinem und Morgans Zimmer.
»Tarzan«, wiederholte Annie. »Where is your Jane?«
»Versprich mir, dass du ihm die Haare schneidest«, sagte ich.
»Ich verspreche es.«
Dann ging sie zur Tür, blieb aber vor dem Bild von van Gogh stehen.
»Deprimiert es dich nicht, wenn du den dauernd vor Augen hast?«
Ich antwortete nicht.
Sie ging. An der Türöffnung drehte sie sich um und fragte, ob sie die Tür schließen solle.
16
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich meldete.
»Berger!«
Er saß im Garten. Im Hintergrund quakten Enten.
»Hier ist Tom.«
»Hallo, Tom!«, rief er. »Ich freu mich, von dir zu hören!«
»Ich habe eine Friseurin gefunden.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe eine Friseurin gefunden!«
»Prima. Wann kommt sie?«
»Morgen, aber das ist noch nicht ganz sicher. Es hängt davon ab, wie es in der Schule geht.«
Berger schwieg einen Moment.
»Kann Anna nicht kommen?«
»Sie hat so viel zu tun.«
Seine Stimme klang frostig.
»Und wer, meinst du, soll es an ihrer Stelle tun?«
»Annie ist fast genauso gut wie Mama. Sie schneidet Ihnen die Haare.«
»Will Anna nicht?«
»Annie ist genauso gut.«
»Hast du deine Mutter gefragt?«
»Sie muss zu IKEA«, log ich. »Und dann kommt jemand, der etwas in ihrem Salon umbauen soll. Sie hat alle Händevoll zu tun.«
»Was?«
»Sie hat alle Händevoll zu tun!« Bergers Art zu telefonieren, hatte mich angesteckt, und ich brüllte auch. »Aber Annie kann es morgen machen! Falls nicht irgendwas in der Schule dazwischenkommt. Soll ich rüberkommen und mit der Hecke anfangen?«
Er schwieg so lange, dass ich dachte, er hätte das Telefon beiseitegelegt.Im Hintergrund hörte ich die Enten, dann Bergers Stimme. »Quak-Quak!«, machte er. »Quak-Quak!«
»Soll ich rüberkommen und mit der Hecke anfangen?«, wiederholte ich.
»Komm nur«, sagte er. »Komm nur.«
Seiner Stimme war anzumerken, dass er enttäuscht war.
»Haben Sie Pflaster im Haus?«, fragte ich.
»Was?«
»Pflaster! Haben Sie Pflaster im Haus?«
Er schwieg eine Weile, bevor er antwortete.
»Du kannst ja mal in der Küche nachgucken.«
Und dann beendete er das Gespräch. Ich zog dicke Strümpfe und Schuhe an. Meine Fersen taten weh, und beim Hinuntergehen humpelte ich.
Berger saß am Tisch neben der Treppe. Vor ihm stand eine Teetasse, und daneben lag dasselbe Buch, das vorher auch neben der Tasse gelegen hatte, außerdem ein Päckchen Knäckebrot. Er trug dasselbe Hemd und dieselbe Hose wie an dem Tag, als ich ihm das erste Mal begegnet war. Im Schotter zu seinen Füßen drängelte sich ein halbes Dutzend Enten. Hin und wieder warf er ihnen ein Stück Brot zu, und manchmal ahmte er sie nach und machte »Quak-Quak«. Die Enten antworteten ihm, und er war so von den Tieren in Anspruch genommen, dass er mich erst bemerkte, als ich direkt neben ihm stand.
»Ach, Tom!«, rief er etwas zu laut, und die Enten watschelten unter die Apfelbäume. »Setz dich! Darf ich dir eine Tasse Tee anbieten?«
Ich setzte mich auf die Treppe.
»Ein Pflaster wäre gut«, sagte ich. »Haben Sie Pflaster?«
Er zeigte mit dem Daumen aufs Haus.
»In einer der Schubladen neben dem Kühlschrank. Wenn ich Pflaster habe, dann liegt es dort.«
Ich ging in die Küche und zog die oberste Schublade desSchränkchens neben dem Kühlschrank auf. Darin lagen einige Küchenmesser, zwei Scheren und ein Eischneider, in der Schublade darunter eine Schnurrolle, einige
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