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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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der Innenseite des Einbandes klebte ein schwarz-weißes Foto. Es war ein Bild von einem Kind im Kinderwagen.
    Ich nahm »Die schönsten Gedichte von Rainer Maria Rilke« mit zu uns hinüber. Annie saß in der Küche und telefonierte. Sie lachte dauernd.
    In meinem Zimmer holte ich das Album und verglich die Fotos. Das Bild im Rilkebuch war das fehlende vierundzwanzigste.
    Ich rief Mama an.
    »Hallo, mein Schatz«, meldete sie sich.
    Im Hintergrund hörte ich ein Radio. Die Tanzmusik-Band hieß vermutlich »Leif-Hugo« oder so ähnlich. Bands, die solche Tanzmusik spielten, hießen immer so seltsam.
    »Ich habe etwas herausgefunden«, sagte ich.
    »Was?«
    »Es geht um deinen Vater.«
    Mama schwieg. Im Hintergrund spielten sie den Refrain.
    »Was hast du gesagt?«, fragte sie nach einer Weile.
    »Ich habe Großvater getroffen.«
    Sie schwieg wieder.
    »Was sagst du?«
    »Ich habe Großvater getroffen. Es ist unser Nachbar.«
    »Wie bitte?« Dann rief sie jemandem zu: »Kannst du bitte den Ton leiser stellen!«
    »Berger«, sagte ich, »er ist dein Vater.«
    Die Radiomusik wurde nur unerheblich leiser.
    »Was hast du gesagt?«, wiederholte Mama.
    »Berger war der Liebhaber deiner Mutter. Er ist dein Vater.«
    Mama keuchte. Es klang, als wäre sie eine Treppe hinaufgelaufen. Die Musik im Hintergrund wechselte.
    »Was hast du gesagt?«, wiederholte Mama.
    »Berger hat dich einmal fotografiert, als du im Kinderwagen gelegen hast. Er hat ein Album mit vierundzwanzig Fotos gemacht. Eines Tages hat er versucht, es deiner Mutter zu übergeben. Sie hat es ihm an den Kopf geworfen. Es ist in den Schnee gefallen. Sie muss es aufgehoben haben, nachdem er gegangen war. Ich habe es in ihrer Kommode gefunden.«
    Jetzt wurde im Hintergrund ein alter Elvis-Song gespielt, einer von Mamas Lieblingssongs. Als Morgan Boogie lernen sollte, hat sie den Song unablässig laufen lassen. Sie hat es nicht geschafft, Morgan Boogie beizubringen. In einer winzigen Rolle in einem Schultheaterstück hätte er Boogie tanzen müssen. Sie haben ihm die Rolle weggenommen, weil er den Takt nicht halten konnte. Stattdessen durfte er den Pförtner spielen. Das machte er gut. Er brauchte nur breitbeinig dazustehen, die Hände auf dem Rücken zu verschränken und auszusehen wie ein Hirntoter. Für die Rolle war er wie geboren.
    »Was für eine Kommode?«, fragte Mama.
    »In meiner Abseite steht eine Kommode. Darin lag das Album mit dreiundzwanzig Fotos von einem Kind im Kinderwagen. Das vierundzwanzigste Bild fehlte. Ich habe es eben gefunden. Es klebt auf dem hinteren Einbanddeckel von dem Buch, in dem Berger immer liest.«
    »Was für ein Buch?«
    »Es sind Gedichte, auf Deutsch.«
    »Ich versteh das alles nicht.« Ihre Stimme klang so besorgt, als hätte ich ihr eben mitgeteilt, dass ich von einem Hausdach gefallen bin und mir die Arme gebrochen habe.
    »Berger ist dein Vater. Wenn du jemals mit ihm sprechen willst, musst du sofort hinfahren.«
    »Wohin?«
    »Das weiß ich nicht, aber es ist bestimmt nicht schwer herauszufinden. Ich kann dir das Album und das deutsche Buch morgen zeigen.«
    Jetzt schwieg sie lange.
    »Ich glaube, ich sollte nach Hause kommen«, sagte sie schließlich.
    »Gute Idee«, sagte ich. »Annie und ich braten Fleischklößchen. Wir essen in einer halben Stunde. Hast du jemals gedacht, dass Harry dein Vater sein könnte?«
    »Harry konnte keine Kinder bekommen. Das war sein großer Kummer. Ich bin gleich da«, sagte Mama.
    Es dauerte aber noch eine Stunde, bis sie kam, und inzwischen hatte ich die Fleischklößchen aus der Pfanne gegessen, denn ich hatte großen Hunger. Sobald Mama hereinkam, fragte sie nach Morgan, und Annie meinte, er sei beim Training.
    Ich erzählte alles von Anfang an, wie Berger mich gebeten hatte, die Hecke zu schneiden, von den Schwarz-weiß-Fotos an der Wand über der Statue, wie er gefragt hatte, ob Mama ihm die Haare schneiden wollte, wie ich ihm die Treppe hinaufgeholfen hatte, wie er erzählt hatte, dass er mein Großvater sei, und wie es in seinem Keller aussah. Vom Gewehr sagte ich nichts und natürlich auch nicht, dass er mir das Schießen beigebracht hatte. Aber sonst erzählte ich alles, sogar alles von »Tarzan – the ape man« und Johnny Weissmüller.
    Mama sah eher müde als interessiert aus.
    »Er sagt, du bist seine Tochter«, beendete ich meinen Bericht.
    »Warum sollte er etwas behaupten, was nicht wahr ist?«, sagte Annie mit Pastasoße im Mundwinkel.
    »Willst du deinen Vater denn gar

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