Du musst die Wahrheit sagen
den Anhaltspunkt im Wasser.«
»Kannst du ihn mir nicht jetzt geben?«, bat sie.
»Morgen«, sagte ich. »Was machst du nach dem Duschen?«
»Lesen.«
»Was?«
»Harry Potter.«
»So was liest du?«
»Ich hab alle gelesen und fang jetzt wieder von vorn an.«
»So bin ich auch«, sagte ich. »Ich lese alles mehrmals, wenn es mir gefällt.«
»Und was machst du jetzt?«, fragte sie.
»Meine Schwester und meine Mutter haben ein Gespräch«, sagte ich. »Über den Vater meiner Mutter und über meinen Vater. Dass ich meinen nie treffe. Und dass wir nie einen Großvater hatten.«
»Ich treffe meinen auch nicht«, sagte Nadja, »und das ist gut so. Er ist ein Säufer und Schläger und ein Schwein. Prügelst du dich?«
»Mein Halbbruder verprügelt mich oft, wenn man das verprügeln nennen kann. Alkohol mag ich nicht. Wenn ich trinke, werde ich traurig.«
»Bist du oft traurig?«
»Vielleicht.«
»Wie meinst du das?«
»Ich überlege, ob ich mir ein Ohr abschneide.«
Sie schrie auf.
»Warum?«
»Weil van Gogh das auch getan hat.«
»Kannst du mir nicht doch den Hinweis geben?«, bat sie.
»Du kriegst ihn morgen«, sagte ich. »Im Wasser. Jemand kriegt blaue Flecken.«
»Wer?«
»Einer von uns beiden.«
»Das Gespräch wird langsam komisch«, sagte sie.
»Dann hören wir auf«, sagte ich.
21
Am nächsten Morgen hatten wir in der ersten Stunde Gesellschaftskunde. Die Lehrerin sah aus wie Madeleine. Sie hätten Geschwister sein können. Sie waren auch gleich gekleidet, sie trugen beide ein Haarband und ein Pikee-Shirt und einen Rock, die Lehrerin wirkte ungefähr drei Wochen älter als Madeleine, keinen Tag mehr.
Sie fing sofort mit dem Unterricht an, obwohl noch nicht alle da waren. Nadja gehörte zu denen, die fehlten.
»Ich heiße Frida Nilsson«, sagte Frida Nilsson, als Tubal und Marc aufgehört hatten zu grölen. Sie hatte neben dem Katheder Platz genommen. Alle hatten sich gesetzt, und alle musterten Frida Nilsson, die einen Boardmarker zwischen den Fingern der rechten Hand kreiseln ließ.
Marc meldete sich.
Frida Nilsson nickte ihm zu.
»Mein Freund möchte wissen, wie alt Sie sind.«
»Wer ist dein Freund?«, fragte Frida Nilsson.
Marc zeigte auf Tubal, der sich grölend über den Tisch warf.
»Nein, nein!«, heulte er. »Ich will gar nichts wissen!«
»Er will wissen, wie alt Sie sind«, behauptete Marc.
»Siebenundzwanzig«, antwortete Frida Nilsson.
Dann drehte sie sich um und schrieb ihren Namen mit runden roten Buchstaben an die Tafel.
Marc pfiff. Tubal lachte, und Madeleine rief Marc über die Schulter zu:
»Wie alt bist du eigentlich? Sechs Jahre, oder was?«
Marc streckte ihr die Zunge heraus, verdrehte die Augen und strengte sich an, dass es so aussah, als würde er Madeleine einen Zungenkuss geben.
Frida Nilsson drehte sich wieder zur Klasse um.
»Wir werden uns in den nächsten Unterrichtsstunden mit Individualisierter Gruppenarbeit beschäftigen«, sagte sie.
Marc pfiff wieder. Die halbe Klasse lachte über ihn, die andere Hälfte schien ihn nervig zu finden.
»Was haben Sie für eine Unterhosengröße?«, rief Marc.
Frida Nilsson wurde rot.
Madeleine schnurrte mit ihrem Stuhl herum und starrte Marc an.
»Ich finde, du gehst raus, wenn du dich nicht benehmen kannst!«, sagte sie laut.
»Uuuu, ich hab solche Angst, wenn Madeleine mit mir schimpft!«, stöhnte Marc. »Ich hab solche Angst, ich krieg nen Steifen!«
Tubal trommelte mit beiden Fäusten auf die Tischplatte, winselte vor Lachen und begrub seinen Kopf zwischen den Armen.
»Ich baue ein Zelt auf!«, wiederholte Marc und versuchte auszusehen, als hätte er sexuelle Fantasien. Er schloss die Augen und begann zu stöhnen.
»Ich komme! Ich komme! Ich komme!«, rief er.
Jetzt war Frida Nilsson knallrot.
»Schmeißen Sie ihn raus«, riet Madeleine ihr.
»Könnt ihr euch nicht zusammenreißen, Jungs?«, bat Frida Nilsson und wurde noch röter. Einige Schüler rutschten auf ihrem Stuhl herum, einige kicherten, aber die Mehrheit schien das Ganze peinlich zu finden.
Madeleine versuchte es weiter mit guten Ratschlägen.
»Es hat keinen Sinn!«, rief sie Frida Nilsson zu. »Die kriegen sich nie mehr ein. Schicken Sie sie raus!«
»Individualisierte Gruppenarbeit«, fing Frida Nilsson wieder an.
»Individualisierter Gruppenporno!«, rief Marc. Tubal heulte vor Lachen. »Genau darauf hab ich gewartet! Gruppenporno!«
»Yeah!«, schrie Tubal.
»Das beinhaltet, dass der Schüler aktiv Verantwortung für
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