Du musst die Wahrheit sagen
war.«
»Mama und ich wohnen auch in einer Dreizimmerwohnung«, sagte Nadja.
»Möchtest du meinen Lieblingsfilm sehen?«, fragte ich.
»Wenn er nicht gerade von Schlangen handelt.«
»Schlimmer«, sagte ich, »von noch viel Schlimmerem als Schlangen.«
»Welcher Film?«
»What’s your name again?«
Sie runzelte die Stirn.
»Was?«
»What’s your name again?«
»Nadja.«
»Chrissie.«
»Ich kapier kein Wort.«
»Der erste Satz.«
»Ich versteh dich nicht.«
»In meinem Lieblingsfilm. What’s your name again? Sie heißt Chrissie.«
»Was ist das für ein Film?«
»Ich geb dir noch einen Anhaltspunkt.«
Sie nickte. Ihr war anzusehen, dass sie Anhaltspunkte liebte. Die Brille war heruntergerutscht und hing auf ihrer Nasenspitze.
»Mom, I got bit by a vampire.«
Nadja beugte sich vor, öffnete den Mund und zeigte ihre Zähne, ebenmäßige Zähne. Sie keuchte.
»Ist das ein Vampirfilm?«
»Nein.«
Sie lachte und lehnte sich wieder zurück.
»Dann weiß ich es nicht!«
»Der letzte Satz. Ich nenn dir jetzt den letzten Satz, dann weißt du es.«
Sie nickte.
»I can’t imagine why?«
Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Locken flogen, und seufzte.
»Den hab ich nicht gesehen.«
»Kurz vorm Ende sagt die Hauptperson was anderes.«
»Was?«
»Smile, you son of a bitch! Dann schießt er.«
Sie schüttelte wieder den Kopf. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Oje, Mist! Ich muss zum Babysitten.«
Sie angelte ihr Telefon aus der Tasche und wählte eine Nummer.
»Hallo, Lisa. Ist deine Mama da?«
Nadja zog eine Grimasse, tippte die Brille an, die ihr wieder auf die Nasenspitze gerutscht war, und stand auf.
»Entschuldige, Kerstin, ich hab’s vergessen. Ich komme sofort.«
»Telefon?«, fragte ich, und sie gab mir ihre Nummer.
»Danke für den Tee«, sagte sie. An der Tür drehte sie sich um. »Du kannst mir den Film ein andermal zeigen. Ich muss bei unserer Nachbarin babysitten.«
19
Ich ging zu Berger hinüber, holte mir das Kabel und die Heckenschere und begann, unsere Seite zu schneiden. Als ich eine Weile gearbeitet hatte, kam Annie und schaute mich an. Ich stellte den Strom ab.
»Hast du dich schon mit jemandem angefreundet?«, fragte sie.
»Wie meinst du das?«
»In der Küche stehen zwei Teetassen.«
»Klassenkameradin«, sagte ich.
»Wie war’s?«
»Was?«
»In der Schule. Was für einen Eindruck hast du?«
»Wie üblich. Wann kommt Mama nach Hause?«
»Sie hat die Maler im Salon. Wenn die Farbe trocken ist, wollen sie Spiegel aufhängen. Es wird sicher spät.«
»Und du?«, fragte ich. »Wie war es in deiner Schule?«
»Jeder musste etwas von sich erzählen, aber nicht länger als eine Minute.«
»Was hast du erzählt?«
»Dass ich zwei Brüder habe und bei meiner Mutter wohne, die Friseurin ist. Dass wir in ein Haus gezogen sind, das uns groß vorkommt wie ein Schloss. Dass wir aus Sundsvall kommen, aber vorher in Göteborg, Malmö, Östersund und Västerås gewohnt haben. Dass wir eine Katze bekommen haben, ohne dass wir es wollten …«
»Die Katze ist abgehauen.«
»Hoffentlich kommt sie wieder. Hast du Morgan gesehen?«
»Ich bin froh, wenn mir sein Anblick erspart bleibt.«
»Könnt ihr euch denn gar nicht vertragen?«
Ich legte die Schere ins Gras und setzte mich daneben, schlang die Arme um die Knie und zog sie bis zum Kinn hoch.
»Da ist etwas«, sagte ich.
Annie kam näher.
»Was?«
Ich hatte ihr erzählen wollen, dass Berger unser Großvater ist, aber ich schaffte es wieder nicht. Also hob ich die Schere auf und arbeitete weiter.
Ich schnitt die Hecke bis zum See hinunter, rollte das Kabel auf und brachte alles zurück in Bergers Keller. Als ich das Haus verlassen wollte, fiel mein Blick auf »Die schönsten Gedichte von Rainer Maria Rilke«.
Ich nahm das Buch und ging ins obere Stockwerk, setzte mich in Bergers Sessel und begann zu blättern. Es stehen Sachen darin wie »Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß«. Ich suchte nach etwas zu schreiben und fand einen Stift in derKüche. Ich schrieb die Zeile auf den Rand einer Zeitung. »Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.« Ich wollte Frau Hansson fragen, was der Satz bedeutete. Ich könnte ja behaupten, dass mein Großvater ihn oft zitierte. Den Zeitungsstreifen steckte ich in meine Hosentasche.
Als ich das Buch weglegen wollte, fiel es mir aus der Hand auf den Fußboden, einige Lesezeichen flatterten heraus. Das Buch lag da, die letzte Seite aufgeschlagen. Auf
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