Du oder der Rest der Welt
Michael wiederzusehen. Ich wusste, dass er hier sein würde, aber ich wusste nicht, ob es mich irgendwie berühren würde. Ich hatte angenommen, ich würde zumindest einen winzigen Funken spüren oder mich erinnern, warum ich überhaupt was mit ihm angefangen habe, aber ich sehe ihn an und fühle absolut nichts. Ich bin tatsächlich über ihn hinweg. Das Problem ist, die Person, in die ich mich gerade Hals über Kopf verliebe, will nicht mehr als ein Abenteuer. Aber ein Abenteuer ist nicht das, was ich will. Trotzdem werde ich weiter so tun, als sei das zwischen Carlos und mir nur vorübergehend und unverbindlich. Andererseits fühlt es sich jedes Mal, wenn wir zusammen sind, zu gut an, um bloß vorübergehend und unverbindlich zu sein.
Ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich mit offenen Augen von ihm träume: morgens nach dem Aufwachen, in der Schule, wenn mich etwas an ihn erinnert, und abends vor dem Einschlafen. Sogar als Michael und ich noch zusammen waren, hat der Gedanke an ihn meinen Tag nicht so versüßt, wie meine Gedanken an Carlos es können.
Während er sein Bestes tut, das Arschloch raushängen zu lassen, erhasche ich jeden Tag kurze Blicke auf den wahren Carlos. Wenn er mit meinem Bruder spielt, sehe ich eine sanfte Seite an ihm, die er vor dem Rest der Welt verbirgt. Wenn er mich neckt, kommt seine verspielte Seite ans Licht. Wenn er mich küsst, spüre ich seine verzweifelte Sehnsucht, geliebt zu werden. Und wenn er mexikanisch kocht oder spanische Ausdrücke in sein Englisch mischt, bricht die bedingungslose Treue zu seinem Erbe und seiner Kultur wie ein heller Lichtstrahl aus ihm hervor.
Ich weiß diese großartigen Dinge über Carlos, und sie sind der Grund, warum ich mich ihm nahe fühle wie noch keinem anderen Menschen zuvor. Aber bisher hat er nicht zugelassen, dass ich Blicke auf seine dunkle Seite erhasche, die Seite, die ihn wütend und eifersüchtig und niedergeschlagen macht. Und ich weiß, dass es dieser Teil von ihm ist, der keinerlei Gefühle zulässt.
Ich beobachte, wie die Mannschaften sich in ihren Zonen aufstellen und Tucks Team das Spiel eröffnet, indem sie das Frisbee werfen. Michael ist der Erste, der losrennt und es sich schnappt, dann will er es rasch einem anderen Spieler seines Teams zuwerfen. Das Problem ist, dass Carlos da ist, um die Scheibe abzufangen, kaum dass sie Michaels Hand verlassen hat.
Innerhalb der ersten zwei Minuten des Spiels haben die Ultimates gepunktet. Tuck gibt Carlos high five. Ich muss zugeben, es ist schön, sie zusammen jubeln statt streiten zu sehen.
»Carlos ist richtig gut«, sagt Brittany zu mir und Alex.
»Er ist ein Fuentes, natürlich ist er gut«, erwidert Alex stolz.
Ich wusste, dass Carlos gut sein würde, denn er hätte nie zugestimmt zu spielen, wenn er nicht davon ausgegangen wäre, dass er seine Sache anständig machen würde.
Das nächste Mal, als Carlos das Frisbee hat, macht Michael ihn an und sagt etwas. Ich habe keinen Schimmer, worum es geht, aber sie sehen aus, als würden sie sich jeden Moment an die Gurgel gehen. Tatsächlich verpasst Carlos Michael einen Stoß, nachdem er die Scheibe einem Mitspieler zugeworfen hat, und Michael landet auf dem Hintern.
»Foul!«, brüllt jemand aus Michaels Team.
»Von wegen Foul«, protestiert Carlos. »Er hat mich blöd angemacht.«
»Ich habe gehört, wie er unseren Spieler beleidigt hat«, ruft Tuck und zeigt auf Michael. »Der Typ sollte eine Strafe wegen Beleidigung bekommen.«
Michael rappelt sich auf und zeigt auf Carlos. »Du hast doch ein Problem mit mir, seit das Spiel angefangen hat!«
»Wir spielen Mann gegen Mann«, sagt Tuck. »Er hat dich nur gedeckt.«
»Er hat mich gestoßen. Du hast es gesehen. Jeder hier hat es gesehen. Er sollte vom Platz geschickt werden!«
Wenn Carlos das Spielfeld verlassen muss, ist das Match vorbei, weil die Ultimates keinen Ersatzspieler haben und aufgeben müssten. Carlos sieht mich an und mein Herz schlägt Purzelbäume. Er spielt nicht, weil Tuck ihn darum gebeten hat, er tut es für mich … und ich habe das ungute Gefühl, dass er Michael meinetwegen so aggressiv angegangen ist.
Gott sei Dank ist der Streit vorbei, bevor er außer Kontrolle gerät, und sie spielen weiter. Ich sehe die nächste Stunde zu, wie die Teams ihren Kampf austragen. Am Ende gewinnen die Ultimates 13:9.
Als ich von der Tribüne steige, kommt Michael auf mich zu. Er sieht so aus wie immer, nur verschwitzter als gewöhnlich. Das Bandana hat er
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