Du sollst nicht hassen
Cousin stopfte die Taschen in der Jacke und die übergroßen Schuhe mit jeder Menge Socken aus, mit denen er Handel treiben wollte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wozu das gut war, und dachte, es wäre einfach ein schlaue Art, als einzelne Person möglichst viel zu transportieren. Mir war nicht klar, dass Gaza zollfreie Zone war und mein Cousin beim Übergang nach Ägypten vermeiden wollte, Steuern zu zahlen, um den Preis seiner Waren niedrig zu halten. Außerdem dachte ich, ich würde ihm bei seiner Arbeit helfen – was ja auch der Fall war –, und ich fühlte mich schon sehr erwachsen, weil ich für diese Aufgabe ausgesucht worden war.
Mein Cousin brach an diesem Tag mit einem seiner Partner im Auto nach Ägypten auf und setzte mich in Begleitung seines anderen Partners in den Zug, der über die Grenze ging. Als der Zollbeamte in den Zug kam, um die Pakete der Fahrgäste zu kontrollieren, und mich fragte, ob ich etwas zu verzollen hätte, sagte ich besten Gewissens »Nein«. Die Wahrheit ist, dass ich nicht wusste, wovon er sprach. Der Beamte glaubte mir nicht, öffnete meine Jacke und fand all die Socken. Er gab mir eine Ohrfeige. Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte, und er zog mich am Ohr und schrie mich an. Ich war zu Tode erschrocken. Im selben Zugabteil saß noch ein anderer Mann, ein Militär aus Indien, der Mitleid mit mir hatte und sagte: »Lassen Sie das Kind in Ruhe.« Als der Partner meines Cousins diese Bitte mit ein bisschen Bargeld unterstrich, kam der Beamte ihr nach. Ich zitterte für den ganzen Rest der Reise nach Kairo.
Als ich in der Stadt aus dem Zug stieg, konnte ich kaum glauben, was ich sah. In Jabaliya gab es keinen Strom, aber Kairo war ein Festival aus Licht. Ich glaubte, ich sei in der Hauptstadt der Welt angekommen. Es war bunt, laut und in den Augen eines Kindes ein prächtiger Anblick. Aber wie ich bald herausfinden sollte, hatte ich keine Zeit, um diese großartige Stadt zu genießen. Der Partner meines Cousins brachte mich in ein billiges Hotel, wo wir meinen Cousin trafen. Hier machten die Händler ihre Geschäfte mit den Einheimischen, und dort blieb ich die ganze Zeit und sah zu, wie die Kunden kamen und gin gen; ich saß herum, während mein Cousin und seine Kumpel ihre Geschäfte betrieben. Bei meiner einzigen Reise als Kind aus Gaza heraus schmuggelte ich also Waren für meinen Cousin. Und mehr noch, er brachte mich wissentlich in Gefahr, aus der ich nur durch die Bemühungen eines indischen Militärangehörigen und mit Hilfe von Bestechungsgeld gerettet wurde. Und mein Lohn dafür? Ich bekam eine Wassermelone aus Ismailia, der Hauptstadt von Ägyptens Kanalregion, die ich meiner Familie mitbrachte. Als ich meiner Mutter erzählte, was passiert war, lachte sie, als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass ich als Kurier benutzt wurde.
Nach diesem Abenteuer ging ich wieder zur Schule und versuchte weiter, ein paar Piaster für die Familie zu verdienen. Ich verkaufte Eiscreme, Kerne zum Knabbern und Geranien. Ich nahm jede Arbeit an, die sich bot, und lernte nie das köstliche Vergnügen von Sommerferien kennen. Eine Zeit lang hatte ich einen Job in einer Ziegelfabrik, wo ich die Ziegel aufreihen und wässern musste, damit sie aushärteten. Dann mussten sie zu einer Palette gebracht und aufgestapelt werden. Jeden Nachmittag nach der Schule arbeitete ich hier. Ich bekam zwei Piaster für jeweils hundert gestapelte Ziegel. Man bedenke, dass einhundert Piaster ein ägyptisches Pfund ergeben und sieben Pfund einen Euro wert sind. Diese Ziegel zu schleppen, brachte mir nicht viel ein, aber ich nahm, was ich kriegen konnte, und auch wenn ich mich manchmal ärgerte (welches Kind würde nicht gern etwas von dem Geld, das es verdiente, behalten), gab ich alles meiner Mutter.
Die Schule war der Ort, wo ich meine Anerkennungen bekam. 1967, als ich in der sechsten Klasse war, wurde ich zum Ansagensprecher der Schule gewählt. Die Lehrer bereiteten jeden Tag Nachrichten vor, und ich las sie das ganze Schuljahr lang über Lautsprecher vor. Das gefiel mir. Ich mochte beinahe alles an der Schule, weil die Lehrer – nicht alle, aber die wichtigsten – mich davon überzeugten, dass ich mit einer guten Bil dung alles werden konnte, was ich wollte. Ich arbeitete sehr hart, um an der Spitze der Klasse zu bleiben. Ich erinnere mich an den Tag im Juni, an dem die Ergebnisse der Jahresprüfungen aller Schüler der sechsten Klassen in Gaza bekannt gegeben werden sollten; es
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