Du sollst nicht hassen
sie einfach übernachten, ohne zu fragen oder uns wenigstens zu informieren? Sie ist Teil dieser Familie. Wir müssen wissen, wo sie ist. Es hätte ihr etwas zustoßen können.
Ich höre zu, gehe an meinen Schreibtisch, um ein paar E-Mails zu beantworten und Menschen, die angerufen haben, zurückzurufen. Auf dem Schreibtisch liegt eine Notiz, die offenbar wichtig ist. »Mohammed möchte zurückgerufen werden.« Ich frage: »Welcher Mohammed?« Aber keiner weiß etwas. Hier gibt es tausend Mohammeds. Was soll ich mit solch einer Information anfangen? Sie ist nutzlos. Ich will mir etwas aufschreiben und entdecke, dass der Notizblock auf meinem Schreibtisch fehlt (schon wieder). Niemand ist es gewesen. Ich gehe zum Kühlschrank, um zu sehen, was wir brauchen, und entdecke verdorbene Lebensmittel. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Ich explodiere und schreie meine Frau an. Die Kinder ducken sich, und Nadia geht zu meinem Bruder, weil sie sich über mein Geschrei so aufregt. Sie weiß auch, dass es besser ist, mich allein zu lassen, damit ich mich beruhige.
Mir ist klar, dass mir zu Hause der Geduldsfaden reißt, weil ich es mir dort erlauben kann, denn hier bin ich in Sicherheit. Vor den Beamten an der Grenze kann ich nicht explodieren. Ich würde alles verlieren. Ich würde Gaza nicht mehr verlassen können, weder um arbeiten zu gehen, noch um zu studieren oder aus medizinischen Gründen. Oder ich könnte nie mehr nach Hause zurückkehren.
Im Sommer 2008 hatte ich die Hoffnung auf Veränderung verloren. Ich fühlte, dass ich es meiner Familie schuldig war, einen Job an einem Ort zu finden, wo wir zusammenbleiben könnten, wo es weniger Einschränkungen gäbe, wo die Kinder sicher zur Schule gehen, auf der Straße spielen und sie selbst sein könnten. Ich wollte sie weit fort von dieser Spannung bringen, die jeden hier im Nahen Osten wie ein Virus infiziert. Nicht für immer – dies ist meine Heimat. Aber für eine Weile – um der Familie eine Chance zu geben, heranzuwachsen, zusammen zu sein.
Im August 2008 erhielt ich von einer internationalen Organisation für Arbeitsvermittlung im Bereich der Gesundheitspolitik Stellenangebote in Kenia, Uganda und Brüssel. Ich buchte ein Ticket, um herauszufinden, ob es in der weiten Welt da draußen etwas für mich und meine Liebsten gab.
FÜNF
Verlust
Wenn das Leben in Gaza normal wäre, wäre mein Abflug am 16. August 2008 einfach gewesen. Über den Checkpoint Eres Gaza verlassen, nach Israel einreisen, mit dem Auto zum Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv fahren und an jeden beliebigen Ort der Welt fliegen. Doch unser Leben ist nicht normal, und Palästinenser haben zu diesem Flughafen keinen Zutritt. Die einzige Möglichkeit, ins Ausland zu reisen, ist die über Jordanien. Die Routen über Israel und Ägypten, unsere nächsten Nachbarn, sind uns verwehrt, solange wir keine spezielle Genehmigung haben, die zu bekommen beinahe unmöglich ist. Diese beschwerliche Reise, die ich im Sommer 2008 von Gaza aus unternahm, war in so vielerlei Hinsicht der Anfang vom Ende, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können.
Ein Projekt, das von den Population Services International (PSI), einer weltweit führenden Gesundheitsorganisation, in Kenia und Uganda betrieben wurde, suchte einen Berater für Reproduktionsmedizin. Wenn ich diese Stelle bekommen könnte, wäre das vielleicht endlich der Zeitpunkt, mit meiner Familie aus Gaza fort und an einen Ort zu ziehen, an dem wir nicht unterdrückt leben müssten und Anschluss an den Rest der Welt hätten. Ich hatte mein Leben der Aufgabe gewidmet, ein Architekt der Koexistenz mit Israel zu werden und die Gesundheits- und Bildungspolitik in Gaza zu reformieren. Aber ich sorgte mich auch um meine Kinder: Wenn ich die Gelegenheit bekäme, sie an einen sicheren Ort zu bringen, irgendwohin, wo es für sie leichter wäre, ihr Potenzial zu entfalten, sollte ich da nicht auf mein Herz hören?
Zuerst flog ich nach Nairobi, um an einer zweiwöchigen Fortbildung zu HIV/AIDS und zu Programmen in der Reproduktionsmedizin teilzunehmen. Danach sollte ich nach Kampala in Uganda fliegen und dort die Mitarbeiter kennenlernen, mit denen ich, für den Fall, dass ich die Stelle annähme, zusammenarbeiten würde. Im Anschluss stand noch Brüssel auf dem Plan, wo ich mich über eine weitere potenzielle Stelle bei der Europäischen Union informieren würde.
Ich beantragte frühzeitig die nötigen Unterlagen. Zwei Wochen vor meiner
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