Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
erkennen, während von ferne leises Donnergrollen heraufzog. Noch nie hatte sie sich so alt gefühlt wie jetzt, da sie versuchte, Nicky einzuholen. Das Gedränge wurde immer dichter. Es war Notting-Hill-Karneval. Sie rief mehrmals Nickys Namen in der Hoffnung, sie würde stehen bleiben, doch nach ein paar hundert Metern, auf Höhe der geschlossenen U-Bahn-Station, gab sie keuchend und schwitzend auf. Nicky hatte den Vorteil, einige Jahre jünger und von großem – wenn auch unangebrachtem – Eifer getrieben zu sein. Es war ein ungleicher Wettbewerb. So würde sie sie nie kriegen.
Sie zog ihr Handy hervor und blickte hinauf zu den Wolken, die sich zu türmen begannen. Es würde mit Sicherheit Regen geben. Also hatte Adam Thornton Kontakt zu Nicky gehabt. Engen Kontakt, soweit sie es beobachtet hatte. Sie empfand flammende Loyalität Greg gegenüber. Seine dumme Frau konnte ihn mit ihrem Drang nach Selbstverwirklichung fertigmachen. Und zugleich spürte sie eine unterschwellige, nagende Unruhe. Sie tippte eine Nummer ein und erledigte einen Anruf.
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D ass Liz Adam kannte, sagte Nicky, dass sie ein weiteres Puzzleteil gefunden hatte, aber das machte das Bild kein bisschen klarer. Am oberen Ende der Portobello Road blieb sie stehen und rief Greg an. Er nahm nicht ab. Sie fluchte. Es herrschte unglaubliches Gedränge. Hunderte von Menschen schoben sich in Richtung Notting-Hill-Karneval. Die warme Nachmittagsluft trug den Lärm des Straßenfestes, von dem sie nur noch ein paar Ecken entfernt war, zu ihr herüber. Sie brauchte weitere Puzzleteile. Sie musste das Bild vollständig zusammensetzen, dann würde sie auch wissen, was zu tun war.
Am Tor blieb sie stehen, klingelte, wartete, bis sie per Summer eingelassen wurde, durchquerte den Hof und klingelte unten am Haus noch einmal. Mit einem Klicken sprang die Tür auf, und Nicky ging nach oben in die Wohnung von Lawrence Thornton. Adam hatte ihr erzählt, dass seine Eltern zum Karneval immer ein Fest gaben, und prompt stand an der Wohnungstür eine Kellnerin mit einem Tablett voller Cocktails mit Schirmchen und Fruchtschnitzen. Noch bevor die Frau mit ihren Erläuterungen zu den Drinks am Ende war, schnappte Nicky sich ein Glas und leerte es auf ex.
»Möchten Sie noch einen?«, fragte die Frau mit einem Lächeln, doch Nicky war schon damit beschäftigt, den Raum zu scannen, in dem sich zwischen den grauen Sofas und an den geöffneten Glasschiebetüren verschiedene Grüppchen von Leuten drängten.
Im Patio spielte eine kleine Steelband, gleich daneben stand jemand am Grill und bereitete Hähnchenteile zu. Ein Kellner ging mit einem Tablett herum, auf dem sich gegrillte und karamellisierte Maiskolben türmten. Die Thorntons brachten sich in Karnevalsstimmung, und sie bewunderte sie für ihren Schwung. Die meisten Anwohner in diesem wohlhabenden Teil Westlondons flüchteten vor dem Bank-Holiday-Wochenende so panisch wie mittelalterliche Adlige aus Pesthochburgen und kehrten erst zurück, wenn der Lärm, die Menschenmassen und die Berge von Müll wieder verschwunden waren.
Nicky machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Durch die offenen Türen war deutlich zu sehen, wie sich am Himmel das Unwetter zusammenbraute.
Erinnerungen an ihren vorigen Besuch in dieser Wohnung brachen über sie herein – wie anders da noch alles gewesen war, vor dem Irrsinn in Hayersleigh, vor den Entdeckungen, die sie hierher zurückgeführt hatten.
Eine afrikanische Frau mit gelbem Turban kam auf sie zu, in der Hand eine Serviette mit einem Hähnchenteil.
»Steh nicht herum wie ein Mauerblümchen, komm näher! Iss was, bevor es anfängt, auf den Grill zu regnen.«
Nicky brach der Schweiß aus.
»Ich bin Minty.«
»Nicky. Hast du …«
»Jonas!«
Minty fiel einem großen Mann mit großer Nase um den Hals, und schon stand Nicky inmitten einer Gruppe von Fremden. Minty fing an, sie miteinander bekannt zu machen, wobei sie ihre Hähnchenkeule schwenkte wie einen Taktstock.
»Noch keine Beschwerden wegen des Krachs?«, fragte Jonas.
Lachend warf Minty den Kopf in den Nacken. »Frag Bridget!« Dann richtete sie den Hähnchen-Drumstick auf Nicky. »Warst du letztes Jahr auch da?«
Nicky schüttelte den Kopf.
»Da kam ein wütender Nachbar und meinte, wenn sie die Musik nicht leiser drehen, holt er die Polizei und wir kommen alle in die Zeitung! Wie Lawrence das fand, kannst du dir denken!«
»›Richter hält den Kopf hin‹ – oder so, hat er gesagt, oder?«, rief
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