Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
nicht vorhergesehen.
Niemand kommt her, hatte er gesagt. Aber Mrs. Perkins kam doch, oder? Die von der Werkstatt würden kommen. Auf jeden Fall. Sie war nicht ganz sicher, ob sie sich glaubte. Hinter einem der riesigen Bäume auf der anderen Seite des Sees ging die Sonne unter. Die Nacht rückte näher.
20
Z um Abendessen gab es ein Omelett und das restliche Brot. Dazu tranken sie eine Flasche Wein. Sie redeten nicht viel. Die Stimmung hatte sich verändert: kein Geplänkel mehr, keine erotischen Andeutungen. Obwohl er ihr körperlich näher kam als während der ganzen Zeit davor – indem er ihre Wunden abtupfte, den Verband an ihrer Hand wechselte, sie sogar zu ihrem Stuhl in der Küche trug –, wirkte er distanziert, in sich gekehrt, gedankenverloren. Und Nicky merkte, dass auch sie sich innerlich zurückzog, sich auf ihre körperlichen Beeinträchtigungen und deren Bewältigung konzentrierte.
Sie sagte, sie wolle früh schlafen gehen, und er half ihr die Treppe hinauf und ins Bad. Als sie wieder herauskam, stand er im Flur und wartete auf sie. Sie kam sich vor wie eine Altenheimbewohnerin mit ihrem Pfleger. Er brachte sie in ein freies Zimmer neben dem von Connie, ihre Stöcke lehnte er an die Wand.
»Warte«, sagte er und verschwand. Kurz darauf kam er mit einem weißen Nachthemd zurück. »Das hat meiner Mutter gehört, aber du kannst es anziehen.«
Als sie ihm das Nachtzeug seiner toten Mutter abnahm, verflüchtigten sich die letzten Überreste physischer Anziehung. Die Unterschiede zwischen ihnen – Alter, Klasse, Erfahrung, Vorlieben – bildeten eine riesige Kluft. Nicky spürte, wie ihr die Schamesröte in die Wangen stieg, und dann stellte sie sich vor, wie sie Maria erheiterte, indem sie ihr erzählte, wie diese zwei Tage voller prickelnder Gelegenheiten so schrecklich und grotesk danebengegangen waren.
»Ich schlafe nebenan«, sagte er, die Hand schon auf der Türklinke. »Wenn du was brauchst, ruf einfach.«
»Ich brauche Licht.«
Er zögerte. »Natürlich, ja.«
Wenige Minuten später brachte er ihr drei Kerzen und Streichhölzer, und dann sagte er förmlich gute Nacht.
Sie hörte noch, wie er unten Fenster und Türen schloss.
Stunden später fuhr sie aus dem Schlaf. Das Bett war fremd, um sie herum war es stockfinster, ihr Knöchel schmerzte, die Schnittwunde an der Hand pochte. Als sie sich aufsetzte, knarrte das Bett. Sie hatte Durst nach dem vielen Wein und trank gierig einen Schluck Wasser aus der Tasse, die auf dem Tisch am Bett stand. Dann tastete sie nach Adams Telefon. Das Display schimmerte blassgrün. Noch gab der Akku Lebenszeichen von sich, der Empfang musste hier laut Anzeige gut sein. Ein Uhr dreißig.
Sie hatte ganz vergessen, wie dunkel es auf dem Land war – außerhalb des grünen Handy-Lichtfeldes sah sie buchstäblich nichts. Wie gern hätte sie Greg angerufen. Sie hielt sich das Handy ans Ohr und stellte sich vor, sie wähle seine Nummer. Sie wollte seine Stimme hören, sich von seiner optimistischen Art anstecken lassen, über einen seiner schlechten Witze stöhnen. Langsam schloss sie die Augen. Es war klar, dass sie ihn nicht anrufen würde, denn sie lag im Haus eines fremden Mannes, und sein Beamer, sein ganzer Stolz, stand mit einem Platten hinter diesem Haus. Das war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt.
Ihr Fuß tat so weh, dass sie noch eine Paracetamol nahm. Den Rest der Woche würde sie mit dem Taxi zur Arbeit fahren müssen. Das würde sie ein Vermögen kosten. Ihre Gedanken richteten sich auf praktische Dinge, auf das, was sie in den nächsten Tagen zu tun hatte, was vor ihr lag. Wenn sie erst einmal hier weg war.
Sie legte sich wieder hin und lauschte der totalen Stille. Der Hitze wegen war das Fenster offen. Sie wünschte, der Mond stünde am Himmel und schickte ein bisschen Licht, doch das verging gleich wieder. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie das Mondlicht geliebt. Hör auf, befahl sie sich. Sie wollte diesen düsteren Gedankengang nicht zu Ende verfolgen. In dieser Nacht hatte sie nicht die Kraft, mit der Erinnerung an Grace fertig zu werden. Zur Ablenkung konzentrierte sie sich auf die Tatsache, dass zum ersten Mal keine Flugzeuge über das Haus donnerten. So kam die Abgeschiedenheit erst richtig zur Geltung, so konnte sie sich viel leichter vorstellen, wie schön es auf diesem Landsitz einmal gewesen sein musste, als eine Familie hier war und den Grundstein für glückliche Erinnerungen legte – bevor sie sich aus dem Haus
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