Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
macht, kann ich nicht fahren, dachte sie. Mit einem Rums setzte sie den Wagen rücklings an einen Baum. Als er noch ungefähr zehn Meter entfernt war, schaltete sie wieder in den ersten und holperte ein Stück vorwärts. Je näher sie ihm kam, desto größer wurde ihre Angst. Ganz reichte es noch nicht, sie kam noch nicht herum. Als ihr klarwurde, dass sie besser nicht hätte wenden, sondern im Rückwärtsgang wegfahren sollen, fluchte sie erneut. Wohl oder übel setzte sie ein weiteres Mal zurück, und dann hatte er sie.
»Nicky!« Er streckte den Arm durch das kaputte Fenster und versuchte, an den Zündschlüssel heranzukommen.
Sie wehrte ihn ab, so gut sie das mit einer Hand konnte, wobei sie sich immer wieder ermahnte: Lass den Motor nicht absaufen, lass ihn nicht absaufen …
»Dein Leben ist in Gefahr!«
Als sie wieder in den ersten Gang schaltete, sprang er auf die Motorhaube. Einen Augenblick lang fixierten sie einander durch das schmutzige Glas, dann gab sie Gas, und der Wagen machte einen Satz nach vorn. Adam konnte sich nicht halten, er landete seitlich auf dem Boden. Mit quietschenden Reifen folgte sie dem Weg. Als sie kurz in den Rückspiegel schaute, sah sie durch die Staubwolke, die die Räder aufwirbelten, Adam immer noch auf der Erde liegen. Sie schaltete hoch, beschleunigte. Eine wilde Hochstimmung kam über sie. Sie hatte es geschafft. Während der Wagen über Bodenwellen und durch Schlaglöcher rumpelte, stieß sie einen Schrei aus, in dem sich Trotz und Erleichterung die Waage hielten. Auf dem Kies kam sie ins Rutschen. Hektisch kurbelte sie am Lenkrad. Zugleich ermahnte sie sich, nicht zu schnell zu fahren. Sie war dem Sieg so nahe.
Als sie den Wagen endlich wieder im Griff hatte, war sie in das Dickicht aus Farnen geraten. Grüne Wedel ragten durch das kaputte Fenster herein. In dem Moment hätte sie Adam umbringen können. Ihn mit ihren bloßen Händen zu Tode prügeln, seinen Kopf zu Brei schlagen, wie sie es aus den
Sopranos
kannte. Sie schrie noch einmal, als sie sich in Erinnerung rief, was er mit ihr gemacht hatte. Dafür würde der kranke Dreckskerl bezahlen, ins Gefängnis würde er dafür gehen. Aber ihre Mordphantasien lagen im Wettstreit mit der Euphorie, der reinen, unbändigen Freude darüber, dass sie frei war – dass sie das überlebt hatte. Und je weiter sie sich von Adams Haus entfernte, desto deutlicher überwog das Gefühl, dass sie ein Riesenglück gehabt hatte.
Am Rückspiegel hing ein Duftbäumchen, das bei der Holperei wie wild schaukelte. Das Aroma war längst verflogen. Sie fuhr den Wagen eines Toten. In der Halterung stand noch ein Becher mit einem Rest alten Kaffees. Wer war der Mann?
Sie öffnete das Handschuhfach und zerrte ein paar Papiere heraus, während sie den ersten Blick auf die asphaltierte Straße erhaschte. Sie hätte bremsen und herunterschalten sollen, doch sie war zu gefesselt von einem der Zettel, die sie aus dem Handschuhfach gezogen hatte. Das Bild war so vertraut, dass es sie bis ins Mark traf.
Das Foto, das sie im Wagen des Toten gefunden hatte, zeigte sie.
Es war eine Standard-Vergrößerung, ein scharfes Bild. Nicky konnte nicht erkennen, ob es mit einer Kamera oder einem Handy gemacht worden war. Es war aus größerer Entfernung aufgenommen, aber die Person, die es zeigte, war zweifelsfrei sie. Sie warf einen Blick auf den Weg und zur Straße, dann starrte sie wieder auf das Papier. Da stand sie und grinste jemanden an, der auf dem Bild nicht zu sehen war. Was war das für ein Haus im Hintergrund? Ein Hochhaus aus Glas und Stahl, irgendein Nullachtfünfzehn-Bürogebäude. Und während sie noch auf das Foto starrte und versuchte zu verstehen, was das alles bedeutete, schoss ihr Wagen auf die kleine Landstraße.
Troy suchte einen Lokalsender. Egal, irgendwas. Es war, als sei er hier auf dem platten englischen Land im Bermudadreieck gelandet. Sein Digitalradio fand nichts und wieder nichts. Er mochte Musik, sie begleitete ihn durchs Leben, konnte seine Stimmung verändern, steuerte seine Gefühle. Und sie hielt seine Sorgen im Zaum. Struan hatte nicht angerufen, und das machte ihn nervös. Ich hätte den Scheißjob selbst machen sollen, dachte er.
Er musste was unternehmen. Irgendwo hier ging die Zufahrt zum Haus ab. Da würde er parken, einen netten Spaziergang machen und nachsehen, was zum Henker dort los war. Vor der nächsten Kurve bremste er etwas, und plötzlich hatte der Sendersuchlauf etwas gefunden. James Brown.
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