Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
desinfiziert. Da sie weder Geld noch Ausweis noch Telefon hatte und damit ihre Anbindung an das normale Leben abgeschnitten war, hatte die Polizistin ihr ein paar Münzen gegeben. Nie zuvor hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt, so angewiesen auf andere.
Sie hörte sein Telefon klingeln, und als er sich meldete, kamen ihr sofort die Tränen. »Greg? Greg, ich bin’s.«
Er stöhnte. Sie war nicht sicher, ob vor Schreck oder vor Schmerz.
»Ich bin’s, Greg!«
»Was? Wie spät ist es? Mein Gott. Nicky? Du lebst?«
Sie zuckte zurück. »Warum denn nicht?«
»Ich … Gott … ich weiß nicht.«
»Mein Geld ist gleich alle. Ruf mich zurück, unter dieser Nummer.«
Er murmelte etwas Unverständliches, angelte sich aber offenbar Zettel und Bleistift. Sie sagte ihm die Zahlen durch.
»Ruf mich zurück!«
Sie legte auf und starrte den Hörer an, als könne er sie jeden Augenblick angreifen.
Du lebst?
Zum allerersten Mal beschlich sie ein Verdacht gegen ihren Mann. Es war heiß und stickig, typische Krankenhausluft. Menschliche Ausdünstungen und der Geruch von abgestandenem Essen konnten sich in der Hitze voll entfalten. Lange Minuten wartete sie, dann klingelte das Telefon endlich, und sie nahm ab.
»Nicky? Hallo. Wie geht’s dir? Ist alles gut?«
Sie hatte ihn mit ihrem Anruf aus dem Schlaf gerissen. Hatte er da, noch nicht ganz bei sich, unfreiwillig etwas durchblicken lassen? Jetzt war sein Ton frisch, ein bisschen aufgesetzt, meilenweit entfernt von der Realität, in der sie sich gerade bewegte. Ihr Anruf war von einer Nummer gekommen, die ihm nichts sagte. Mit Nicky hatte er überhaupt nicht gerechnet. Deshalb hatte es gedauert, bis er zurückrief, er hatte sich erst einmal gesammelt.
»Alles in Ordnung«, sagte sie und hustete. »Ja, mir geht’s gut, glaube ich.«
»Na.« Es entstand eine Pause. »Das ist doch toll.«
Toll?
Ihr ungutes Gefühl wuchs. Sein Ton war purer Sarkasmus, da war sie sicher.
»Du fehlst mir. Du fehlst mir schrecklich.«
Schweigen.
»Du fehlst mir auch, Nicky.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Zweimal war sie während der vergangenen beiden Wochen dem Tod gefährlich nahe gewesen. Sie erinnerte sich an das Gefühl, hintenüberzufallen und zu begreifen, dass nichts sie hielt, dass sie tatsächlich in den Fluss stürzte. Es ergab keinen Sinn. Warum war Adam ihr damals hinterhergesprungen, um sie zu retten, und hatte sie eine Woche später in sein Haus geholt und dort unter Verschluss gehalten? Und es ging ihr durch Mark und Bein, als sie an das zweite Mal dachte, daran, wie sie um ihr Überleben gekämpft hatte und darum, zu entkommen. Das Bild von Adam, wie er auf der Motorhaube hing, während sie Vollgas gab, stand ihr deutlich vor Augen. Was hatte er ihr hinterhergerufen?
Dein Leben ist in Gefahr!
Deutlicher ging es nicht. Er war verrückt, bösartig, gefährlich, keine Frage – aber was, wenn an dem, was er sagte, etwas dran war? Die grausame Wahrheit war, dass sie das nicht ausschließen konnte. Sie war sich nicht sicher, ob Greg wirklich nur überrascht gewesen war, als er ihre Stimme hörte – oder womöglich enttäuscht?
»Greg?« Sie war voller dunkler Ahnungen, und sie fühlte sich furchtbar allein. Selbst jetzt, da sie mit ihrem Mann telefonierte, dachte sie immerzu an Adam. Sie wusste, das war irrational, vielleicht eine Folge der traumatischen Verfolgungsjagd, aber deswegen hatte es nicht weniger Macht über sie. »Ich muss jetzt Schluss machen. Ich ruf dich bald wieder an.« Und sie legte auf, bevor er es tat.
Als sie sich umdrehte, sah sie die Polizistin, die ihre erste Aussage aufgenommen hatte – Sandra? – ein Stück den Flur hinunter auf einem der Plastikstühle sitzen und sie beobachten. Sofort schob sie die Hand in die Tasche ihres Kleides und ertastete das zerknitterte Foto. Mit der anderen klammerte sie sich an die Plexiglaswand, damit sie nicht umkippte. Woher wusste sie, dass derjenige, der Grace umgebracht hatte, nicht hinter ihr her gewesen war? Die Antwort war: Sie konnte es nicht wissen. Sie wusste ja noch nicht einmal, welche Fragen sie stellen musste.
Die Polizistin nickte ihr freundlich zu: eine Einladung, einfach alles zu erzählen.
Doch Nicky, lädiert und allein, wie sie war, dachte nur, dass es niemanden gab, der über jeden Verdacht erhaben war.
27
D etective Inspector Jenny Broadbent drehte den AFC -Bournemouth-Becher so, dass ihre Lippen mit der angeschlagenen Stelle nicht in Berührung kamen. Der Becher war der
Weitere Kostenlose Bücher