Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
Hackney wohnte, besaß er nicht mal eine Kreditkarte, geschweige denn eine Hypothek.
Tja, das war’s dann wohl, sie hatte versagt. Cynthia stütztedas Kinn in die Hand und grübelte. Wer besaß heutzutage keine Kreditkarte? Jemand, den die Banken aufgegeben hatten. Jemand, der nie einen richtigen Job gehabt hatte. Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf und schöpfte neue Hoffnung. Natürlich! Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Martin Gibbons bezog wahrscheinlich Arbeitslosengeld.
Sie griff zu ihrem Adressbuch und schlug eine Seite auf, die mit »Behörden« überschrieben war. Sie hatte einen guten Kontakt im Arbeitsamt, zu jemandem, der ihr noch einen Gefallen schuldete. Wenn es einen Martin Gibbons in Hackney gab, der Stütze bekam, würde sie es bald wissen.
Etwas später stand Cynthia vor dem King Edward House. Der vornehme Name war der reinste Witz angesichts dieser schäbigen Sozialbausiedlung. Die Sonne ging schon unter, und die Gebäude warfen lange Schatten.
Hinter sich hörte sie Rufe. Sie drehte sich um und sah, wie ein halbes Dutzend Jugendliche auf ihren Fahrrädern enge Kreise zogen, die Gesichter von Sweatshirtkapuzen verdeckt. Sie wunderte sich, dass sie bei diesem Licht überhaupt noch etwas sehen konnten. Dann rief einer von ihnen: »Mir nach!«, und plötzlich kamen sie direkt auf Cynthia zugerast. Sie presste ihre Handtasche an sich und versuchte, zum Hauseingang zu rennen.
Doch schon nach wenigen Schritten hatten die Räder sie eingeholt. Graue und blaue Sweatshirts sausten an ihr vorbei und bildeten eine Mauer, die ihr den Weg versperrte. Sie begannen, sie zu umkreisen, und sie bekam es mit der Angst.
»Hey, Baby, du siehst aber guuuuuut aus«, sagte eine der Kapuzengestalten in einem seltsamen Singsang. Die anderen lachten dreckig, und sie sah Zähne aufblitzen. Dann sagte einer »Los, kommt schon!« und nahm den Weg, den siegekommen war, der sie vom beruhigenden Verkehrsgewühl der Straße weggeführt hatte. Die anderen sausten ihm nach, wobei sie so dicht an ihr vorbeifuhren, dass sie sie beinahe streiften. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, und sie zitterte.
Sie holte ein paarmal tief Luft, um sich zu beruhigen, und betrat das Haus. Martin Gibbons wohnte im zweiten Stock, in einer Wohnung, die auf eine gewisse Kylie Manson angemeldet war. Vermutlich seine Freundin. Im Treppenhaus roch es nach Urin und frischem Curry. Cynthia hörte Stimmen und das Klappern von Töpfen.
Sie klingelte an der Wohnung Nummer 206, und die Tür öffnete sich gerade so weit, wie es die vorgelegte Kette erlaubte. Ein Auge erschien im Türspalt, und eine Frauenstimme fragte: »Was wollen Sie?«
»Hallo, ich bin Cynthia Wills von der Firma Draycott Life Sciences. Ich bin gekommen, um mich nach Martin Gibbons zu erkundigen.« Die Stimme begann: »Wir brauchen keine – «, als Cynthia sie mit den Worten unterbrach: »Unter Umständen hat er ein Anrecht auf eine Entschädigungszahlung.« Das Auge blinzelte ein, zwei, drei Mal. Eine nachdenkliche Pause entstand. Dann wurde die Tür zugemacht, und Cynthia hörte Metall klirren, bevor sie ganz geöffnet wurde.
Kylie Manson war hübsch, trotz ihrer Aufmachung mit hautengen Jeans, knallblauem Lidschatten und riesigen silbernen Kreolen.
»Wie hoch ist die Entschädigungszahlung?«
Cynthia setzte ihr geduldigstes, professionellstes Lächeln auf. »Ich müsste erst mit Mr Gibbons sprechen, um das entscheiden zu können.«
Kylie trat einen Schritt zurück und winkte Cynthia herein. Vor einem schwarzen Kunstledersofa stand ein riesiger Fernseher, auf dem MTV lief. Der Ton war ausgeschaltet.Halbnackte Frauen verrenkten sich auf dem Bildschirm.
»Martin!«, rief Kylie. »Da will dich jemand sprechen.«
Cynthia hörte von irgendwoher ein Brummen, dann tauchte ein unrasierter Mann um die dreißig auf, er trug Jeans und ein ärmelloses T-Shirt. Er sah Cynthia überrascht an.
»Sie sagt, du kriegst vielleicht Geld«, erklärte Kylie.
»Toll, was muss ich dafür tun?«
»Nur ein paar Fragen beantworten. Mein Name ist Cynthia Wills. Ich komme von Draycott Life Sciences.« Cynthia setzte sich auf die Couch und holte ihren Notizblock hervor. Martin setzte sich neben sie und war ganz Ohr. Er sah ganz gesund aus. Und vollkommen normal. Die Haut unter seinen Augen hatte dieselbe gelbliche Farbe wie das restliche Gesicht. Das hieß, dass auch die extremsten Reaktionen auf 24/7 bloß vorübergehend waren.
Cynthia schlug den Block auf. »Beginnen wir mit Ihrem
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