Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
zwei gedeckt hatte, und war furchtbar enttäuscht. Es war, als drehte sich ein Messer in meinen Eingeweiden. Ich warf einen Blick ins Nebenzimmer und erwartete, einen Mann dort zu sehen. Einen, der klug und erfolgreich war, der wusste, worüber man mit Frauen wie Katrina redete. Kein Idiot, der sich Hoffnungen machte, bloß weil sich eine sympathische Frau Blumen liefern lässt.
Aber dann nahm sie mir die frischen Lilien aus der Hand und sagte: »Kannst du zum Abendessen bleiben?«
Ich starrte sie eine Ewigkeit an und war nicht sicher, obich mich nicht verhört hatte. Die Kerzen brachten ihr Haar richtig zum Leuchten. »Klar«, sagte ich. »Das … das wäre nett.«
Und vielleicht zum ersten Mal überhaupt hatte ich das Gefühl, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen.
Weiße Pillen, die aus einem Glasfläschchen fielen: Cynthia versuchte, sie aufzufangen, bevor sie unten aufprallten, aber es waren zu viele. Sie bemühte sich verzweifelt, die zu Boden trudelnden Dinger zu fassen zu bekommen, doch ihre Finger schlossen sich um Luft, und ihre Hände blieben leer. Dann erreichte die erste den Boden und explodierte wie eine Bombe. Sie warf die Arme hoch, versuchte sich zu schützen. Aber jetzt schlugen noch mehr Pillen auf, jagten alles in die Luft, und sie …
Das Schrillen des Weckers riss sie aus dem Schlaf. Der Lärm malträtierte ihre Ohren, während sie die letzten Traumfetzen wegblinzelte. Dann hob sie den Kopf, und die Digitalziffern nahmen Konturen an: 14.14 Uhr. Sie drückte die Schlummertaste und ließ sich seufzend ins Kissen zurückfallen.
In wenigen Minuten musste sie aufstehen und sich auf eine Begegnung mit der Familie des Themse-Opfers vorbereiten. Mit den Hinterbliebenen. Sie legte sich einen Arm übers Gesicht und wünschte beinahe, sie hätte das Interview jemandem von der Tagschicht überlassen. Aber das hätte bedeutet, die Kontrolle über die Geschichte abzugeben, und das ging auf keinen Fall.
Der Wecker attackierte ein weiteres Mal ihre Nerven und wurde mit einem Hieb zum Schweigen gebracht. Bilder und Töne der letzten Nacht tauchten jäh wieder auf. Blasse Haut, schmale Augen. Dunkelheit, die gegen die Fenster der Redaktionsräume anbrandete. Und diese vier geflüsterten Worte.
Schlafen ist für Schwache.
Cynthia verkroch sich noch tiefer unter ihre Bettdecke und versuchte, Marcus zu vergessen. Er war gestört. Und Gestörte sagten nun mal gestörte Sachen, das lag in ihrer Natur. So langsam verstand sie, warum die Kollegen ihn mieden. Irgendwas stimmte nicht mit Marcus.
Das Taxi nach Maida Vale und der zum Glück schweigsame Fahrer gaben Cynthia Gelegenheit, ihre Notizen noch einmal zu überfliegen. Wenn sie etwas an ihrem Job hasste, dann dies: bei den Angehörigen eines Mordopfers aufzutauchen und sie in ihrer Trauer zu stören. Sie staunte jedes Mal, wie oft sie hineingebeten wurde. Ein plötzlicher Verlust machte die Menschen unvorsichtig, brachte sie dazu, sich zu öffnen. Sogar einer Fremden mit einem Notizblock gegenüber.
Die schäbigen Läden und libanesischen Cafés der Edgware Road wichen hübschen viktorianischen Reihenhäusern mit sauber gestutzten Hecken. Das Taxi umrundete Little Venice und seine bunt bemalten Kanalboote. Dann bog es nach links ab und hielt vor einem Haus mit einem kleinen Garten und einer blauen Tür. Cynthia reichte dem Fahrer eine Zwanzigpfundnote, verzichtete auf das Wechselgeld und ließ sich dafür eine Blankoquittung geben.
Vor dem Gartentor blieb sie kurz stehen und kroch tiefer in ihren Wintermantel hinein, wappnete sich gegen das, was jetzt kam. Etwas Schweres schien sich auf ihre Brust gelegt zu haben und drückte ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sie atmete ein paarmal tief durch und füllte ihre Lunge mit kalter Luft. Unversehens ging die Tür auf. Eine ältere Frau mit Nickelbrille und einem auffallenden weißen Zopf stand auf der Schwelle, ihre Finger nestelten am Kragen ihres langen Kleides.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Sie musste Cynthia durchs Fenster gesehen haben.
Hastig suchte Cynthia in ihrer Handtasche nach ihrem Presseausweis. »Mrs Reed?«
Die Frau nickte.
»Ich heiße Cynthia Wills.« Sie hielt den Ausweis hoch wie einen Schutzschild. »Ich komme vom Sentinel . Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust. Könnte ich vielleicht kurz mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen? Darüber, was sie für ein Mensch war?«
Mrs Reed nahm ihre Brille ab und wischte eine Träne weg, bevor sie sie wieder aufsetzte. Cynthia
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