Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
letzte Nacht zehn Stunden gearbeitet. Das tat er auch jetzt. Er konnte also heute unmöglich auch tagsüber im Einsatz gewesen sein. Nachdenklich starrte sie über die Schreibtische hinweg zu ihm hinüber. Wie immer hatte er dunkle Augenringe, wirkte aber ansonsten gesund und hellwach. War das dasselbe Hemd, das er schon letzte Nacht getragen hatte? Schwer zu sagen, sein Modegeschmack war unauffällig, fast alles, was er trug, war blau. Vielleicht hatte er die Geschichte jemandem von der Tagschicht übergeben und war einfach in der Autorenzeile stehen geblieben. Das kam schon mal vor. Sie stand auf und streckte sich. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Sie war investigative Reporterin, höchste Zeit für Nachforschungen.
Marcus zuckte leicht zusammen, als Cynthia neben ihm auftauchte.
»Na, wie läuft’s?«, fragte sie. Seine einzige Antwort war ein stummes Achselzucken. Langsam fand sie ihn richtig unheimlich. »Hast du das Versehen in der Abendausgabe bemerkt? Bei dem Artikel über unbezahlte Überstunden auf Seite fünf bist du als Autor genannt worden.«
Marcus blätterte in einigen Pressemitteilungen. Eine lange Pause entstand.
»Das ist kein Versehen«, sagte er gelassen.
»Aber … die Pressekonferenz hat heute Nachmittag stattgefunden … Und du bist in der Nachtschicht.«
Wieder dieses Achselzucken. »Jemand hat sich krank gemeldet, also habe ich angeboten, eine weitere Schicht zu übernehmen.«
Cynthia starrte ihn verblüfft an. »Das ist doch nicht dein Ernst! Du hast dreißig Stunden am Stück gearbeitet? Du musst doch völlig am Ende sein!«
Seine Finger huschten über die Tastatur. Der Satz » Der Premierminister erklärte, ausländische Arbeitskräfte seien keine Lösung « erschien auf dem Bildschirm.
»Eigentlich nicht«, sagte er, griff nach einem leeren Wasserglas und erhob sich von seinem Stuhl. »Ich habe mich zwischendurch etwas ausgeruht.«
Cynthia brachte nur ein Kopfschütteln zuwege. »Ja, aber … Meine Güte, Marcus, brauchst du denn gar keinen Schlaf?« Da drehte er sich um und hatte wieder diesen Gesichtsausdruck: die zusammengekniffenen Augen. Die hochgezogene Oberlippe. Und plötzlich trieb das Wort, nach dem Cynthia gesucht hatte, an die Oberfläche ihres Bewusstseins.
Verachtung. Sie stand ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben: unverhohlene Verachtung. Verblüfft trat sie einen Schritt zurück. Sie ließ ihr Gespräch noch einmal Revue passieren, suchte nach Missverständnissen, nach einem falschen Wort. Nichts. Dann wurde ihre Verblüffung zuWut. Sie presste die Lippen zusammen. Für wen hielt sich dieser Kerl eigentlich? Sie war eine erfahrene, preisgekrönte Reporterin und er nur ein blutleerer Niemand mit dem Charme und dem Charisma von Torfmoos.
»Hast du irgendein Problem, Marcus?«, fragte sie kühl und verschränkte die Arme vor der Brust.
Marcus starrte wortlos zurück. Sie wandte den Blick nicht ab, sodass sie sich fixierten wie Revolverhelden in einem Spaghetti-Western. Nur noch das Summen der Bürobeleuchtung und das gedämpfte Brummen eines Staubsaugers irgendwo über ihnen waren zu hören.
Dann murmelte Marcus etwas.
»Wie bitte?« Cynthia runzelte die Stirn. »Was zum Teufel soll denn das …« Doch sie sprach nur noch mit seinem Rücken. Marcus ging einfach davon in Richtung Küche. Sie starrte ihm nach. Was für ein unverschämter Scheißkerl! Und was für eine seltsame Antwort. Sie schüttelte den Kopf. Sie musste sich verhört haben. Denn sie hätte schwören können, dass er gesagt hatte: »Schlafen ist für Schwache.«
4
Als ich zu Katrinas Boot kam, war es schon dunkel. Ich erkannte es sofort an den Kerzen. Sie sahen aus wie Trinkgläser, nur mit rotem Wachs drin. An jeder Ecke des Bootsdachs stand eine und flackerte im Sommerwind.
Durch eines der Fenster konnte ich sehen, wie Katrina drinnen hin und her ging. Ich schloss die Augen und blieb kurz vor dem Boot stehen, während mir das Herz fast aus der Brust sprang. Bestimmt hatte ich ihr Lächeln im Full Bloom falsch interpretiert. Vielleicht wollte sie bloß höflich sein, und ich hatte mir sonst was ausgemalt. In Wahrheit würde sie einfach die Blumen nehmen, mir ein Trinkgeld geben und die Tür wieder zumachen.
Dann musste sie mich gesehen haben, denn sie öffnete die Tür und winkte mich herein. Im Boot brannten noch mehr Kerzen, und in den Ecken lagen große Kissen. Die Lilien von der Vorwoche standen auf dem Tisch und ließen die Köpfe hängen. Ich sah, dass sie den Tisch für
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