Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
bekäme er keine Luft. Er lag im Sterben … und ich sah ihm an, dass er das wusste. Er wusste es und er wollte nicht, dass ich es mit ansehe.«
Die zuckenden Lippen ihres Vaters, als er versuchte, die Worte herauszubringen. Ein Flüstern, mehr eine Art Rasseln. »Geh. Bitte.« Dann ein letztes Ringen nach Luft, bevor alles zu Ende war: »Geh!«
Sie schloss krampfhaft die Augen und versuchte, das Bild zu verdrängen. Der Song von Lady Gaga, der gerade lief, dröhnte in ihrem Schädel, sodass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten und ihn mit lautem Schreien übertönt hätte.
»Aber ich bin nicht gegangen«, fuhr sie fort. »Ich habe das Licht angemacht und gesehen, dass seine Lippen ganz blau waren. Das Glasfläschchen in seiner Hand ist zu Boden gefallen, überall waren weiße Pillen verstreut. Er hat sich nicht mehr gerührt. Ich habe noch nie jemanden so still daliegen sehen.« Sie merkte vage, wie fest ihre Hand die von Damien umklammerte. So fest, dass es wehtun musste. Aber sie ließ trotzdem nicht locker. »Ich habe geschrien. Nach meiner Mutter. Doch sie war draußen im Garten und hat mich nicht gehört. Ich habe versucht, ihn zu retten. Ich hatte in der Schule gelernt, wie man Mund-zu-Mund-Beatmung macht. Aber …«
Tränen erstickten ihre Worte. Sie legte die Hände vor die Augen, als ihr ihre Umgebung wieder schmerzhaft bewusst wurde. Die Menschen. Die Musik.
Damien rutschte mitsamt seinem Stuhl neben sie und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Es tut mir leid«, sagte er und küsste sie auf die Stirn. »Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest.«
Sie nickte stumm, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, fragte sich, wie sich alte Wunden so frisch anfühlen konnten.
»Mum hat mir nie gesagt, dass es eine Überdosis war«, fuhr sie fort, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Aber ich habe gehört, wie die Leute auf der Beerdigung darüber geredet haben.« Sie atmete tief ein. »Deshalb nehme ich keine Medikamente. Nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann.« Sie lächelte zittrig. »Jetzt weißt du es also. Und verstehst mich hoffentlich.«
»Natürlich tue ich das«, sagte er. In seiner Stimme lag aufrichtige Anteilnahme, trotzdem glaubte sie noch etwas anderes herauszuhören. Enttäuschung.
»Können wir jetzt bitte gehen?« Sie wollte dringend in die kleine Welt zurückkehren, die Damien und sie sich aufgebaut hatten. In ihre vertraute Umgebung. »Ich … ich würde jetzt wirklich gern gehen.«
»Ja, sicher, natürlich.« Er verlangte die Rechnung.
Cynthia spürte, wie die Woge des Kummers, die sie überkommen hatte, langsam abebbte. Doch etwas anderes war an ihre Stelle getreten: Angst. Denn sie wusste jetzt, dass Damien nie mehr damit aufhören würde, 24/7 einzunehmen. Und ihr Schlafbedürfnis würde sie Nacht für Nacht voneinander trennen, während er mit neuen Freunden ein anderes, aufregendes Leben führte, in einer Zeitzone, die sie nicht bewohnte. Wie lange konnte das gutgehen, bevor es einen Keil zwischen sie trieb?
Als sie hinausgingen, nahm Damien ihre Hand und drückte sie mitfühlend. Mein Freund liebt mich, sagte sich Cynthia. Keine Pille der Welt kann daran etwas ändern. Sie traten auf die Camden High Street hinaus. Nicht zu fassen!, dachte sie, als sie einer langen Menschenschlange vor einem Nachtclub auswichen. Bin ich die Einzige in London, die morgen arbeiten muss? Dann blieb Damien so abrupt stehen, dass ihre Hände sich voneinander lösten. Er hatte ein Plakat im Fenster eines winzigen Musikclubs entdeckt – die Begeisterung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»James Mullen!«, rief er. »Was macht der denn in so einer kleinen Kaschemme? Der Mann ist eine Legende!« Cynthia trat neben ihn. Das fotokopierte Plakat zeigte einen Mann mit einer Gitarre. Darüber hatte jemand von Hand geschrieben: »James Mullen, nur heute Nacht«. Eine ziemlich lausige Werbung für eine angebliche Legende. »Ich wusste gar nicht, dass er in der Stadt ist«, fuhr Damien fort. »Dasstand bestimmt nicht in Time Out , denn das hätte ich mir gemerkt.«
Er wandte sich dem Clubeingang zu. Die Tür stand offen und gab den Blick auf eine nach unten führende Treppe frei. Eine Samtkordel sperrte sie ab, die von einem Mann im schwarzen T-Shirt mit grauem Pferdeschwanz bewacht wurde.
»Hallo«, sagte Damien betont lässig. »Ich nehme an, der Gig ist ausverkauft?«
Der Mann mit dem Pferdeschwanz schüttelte den Kopf. »Nö. Vor zwei Stunden wusste noch
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