Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
in ihrem Gesicht verschwand und wich einem verächtlichen. Seit wir zusammen waren, hatte ich diesen Ausdruck bei Katrina noch nie gesehen. Ganz einfach weil sie nett war und in jedem nur das Gute sah. Aber viele andere hatten mich so angeschaut, deshalb wusste ich, was es bedeutet, wenn jemand so ein Gesicht machte.
»Die zählen nicht«, sagte sie, ließ sich rücklings ins Gras fallen und zog mich mit hinunter. Es war eine kalte Herbstnacht, und das Gras war nass, aber das schien ihr nichts auszumachen. »Diese Leute da sind gar nicht real. Bis morgen früh sind die alle tot.« Dann zog sie den Reißverschluss meiner Jeans auf, und ich dachte nicht mehr an die Häuser oder ob die Leute darin real waren oder nicht. Ich vergaß alles um mich herum bis auf sie.
Die Leiche war längst abtransportiert worden, als Cynthia zum Tudor Park kam. Es war ein klarer Morgen, die Sonne stand hoch am knallblauen Himmel. Die Ermittler hatten Glück: kein Regen, der Beweisspuren vernichten konnte. Eine kleine Menschenmenge hatte sich vor dem Absperrband angesammelt, das die Stelle markierte, wo die Tote gelegen hatte. Schrecklicherweise war es ein Kind gewesen,das sie gefunden hatte, ein neun Jahre alter Junge mit einem neuen Drachen. Er wohnte ganz in der Nähe und war nach dem Abendessen in den Park gerannt, weil er es kaum erwarten konnte, sein Geschenk auszuprobieren. Er war rückwärts gelaufen, den Blick auf das bunte Dreieck über sich geheftet, als er über etwas gestolpert war: das Bein einer Frau. Der Junge hatte die Drachenschnur losgelassen und war davongerannt.
Die Tote hieß Phoebe Albertson. Der Name stand auf dem Führerschein in ihrem Geldbeutel, der außerdem dreiundsechzig Pfund in bar und zwei Kreditkarten enthielt. Also kein Raubüberfall. Und die Leiche war »vollständig bekleidet, ohne jeden Hinweis auf ein Sexualverbrechen«. Eine Vergewaltigung schien es also auch nicht zu sein. Aber mehr hatte Nick Cynthia auch nicht sagen können, als sie vor einer Stunde miteinander telefoniert hatten. Die Todesursache war noch nicht bekannt – wenn sie einen Scoop landen wollte, musste sie selbst vor Ort recherchieren.
Sie musterte die Polizisten, die den Tatort bewachten. Sie brauchte jemanden, der jung und männlich war. Einen Beamten, der noch weit unten in der Hierarchie stand, einen einsamen Anfänger. Ihr Blick blieb an einem Constable hängen, der an der Ecke des Parks, die der U-Bahn am nächsten lag, Wache schob. Er zupfte an dem Absperrband herum und schien sich zu langweilen. Als er den Kopf drehte, sah sie, dass er ein freundliches, von Aknenarben gezeichnetes Gesicht hatte. Sie schätzte ihn auf dreiundzwanzig, höchstens vierundzwanzig. Perfekt.
Sie schlenderte beiläufig auf ihn zu. Eine scharfe Brise zerrte an ihrem knielangen Rock, und sie ließ zu, dass er ein paar Zentimeter hoch wehte und um ihre Oberschenkel flatterte. Der Gesichtsausdruck des Polizisten blieb unverändert, aber sie sah, wie sein Blick zu ihren Beinen huschte.
»Hallo!«, sagte Cynthia und blieb vor ihm stehen. SeineAntwort war ein kurzes Nicken. »Wie lange stehen Sie denn schon hier?«
Er zögerte und sah dann auf seine Uhr. »Fast elf Stunden.«
»Sie müssen ja völlig fertig sein«, sagte Cynthia mit ehrlicher Anteilnahme.
Der Polizist zuckte die Achseln. »Das gehört zum Job.«
Sie zeigte mit dem Kinn auf den Tatort. »Was ist der armen Frau zugestoßen?«, fragte sie. »Ich nehme an, es war kein natürlicher Tod?«
Er zupfte wieder an dem Absperrband, das sie trennte. »Sieht ganz so aus.«
»Aber sie wurde auch nicht erstochen oder erschossen«, fuhr sie fort und lauerte auf eine Reaktion des Polizisten.
»Ach ja?«, sagte er, plötzlich misstrauisch geworden. »Woher wissen Sie denn das?«
»Weil es kein Blut gibt.«
Er lächelte undurchsichtig. »Wenn es welches gäbe, wäre es im Gras doch schwer zu erkennen, meinen Sie nicht?«
»Nun ja, Sergeant …«, hob Cynthia an.
Er zögerte kurz, bevor er sie verbesserte. »Ich bin nur ein einfacher Constable.«
Sie gab ihm die Hand und sagte: »Cynthia Wills vom Sentinel .«
»PC Justin Miller.« Lächelnd erwiderte er ihren Händedruck.
»Nun, PC Miller. Ich bin keine Expertin, kann mir aber vorstellen, dass Erstechen oder Erschießen mit einem erheblichen Blutverlust einhergeht. An einem so schönen Tag wie heute würde man das bestimmt sehen, sogar im dichten Gras. Sogar aus der Ferne.« Cynthia hatte nicht die geringste Ahnung, ob das stimmte. Sie
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