Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
unter der Dusche gesungen hatte. Sie hatte sofort damit aufgehört. Und danach kein einziges Wort mehr gesagt. Wir frühstückten in eisigem Schweigen. Deshalb war ich schon schlecht gelaunt, als die alte Frau reinkam. Sie war winzig und ging ganz gebeugt, ihre Haut sah aus wie zerknittertes Papier. Sie ging zum Kaktusgarten und sah sich die Pflanzen an. Mein Chef war an diesem Tag auch da und reparierte irgendwas im Japanbereich. Er sah immer wieder zu uns rüber. Aber sie wirkte zufrieden, also ließ ich sie eine halbe Stunde lang die Kakteen ansehen, bevor ich zu ihr ging und sagte: »Kann ich Ihnen helfen?«
Sie lächelte dieses typische Alte-Leute-Lächeln, bei dem man sich immer fragt, ob sie sich noch an die Frage erinnern können. Dann sagte sie: »Ich wollte eigentlich etwas Blühendes.«
Na ja, inzwischen kannte ich mich mit Kakteen gut aus und wusste, welche wann blühen und welche Farbe die Blüten haben werden. Ich beschrieb sie ihr, zeigte dabei auf jede Pflanze und war sehr stolz auf mich und mein Wissen. Darauf, dass ich einen Job hatte, in dem ich gut war. Dass ich meinen Platz gefunden hatte. Als ich damit fertig war, waren fast fünfzehn Minuten vergangen.
Die Frau stand da, nickte bedächtig und sagte dann: »Das ist wirklich alles sehr interessant, mein Lieber. Aber ich hatte eher an so etwas wie Lilien gedacht.«
Aus dem Japanbereich war ein unterdrücktes Lachen zu hören.
Ich konnte es einfach nicht fassen. Die alte Kuh hatte sich eine halbe Stunde bei den Kakteen umgesehen und mich dann eine Viertelstunde lang über die blöden Dinger reden lassen. Und wozu das alles? Bloß damit sie mich vor meinem Chef lächerlich machen konnte! Plötzlich war diese Riesenwut in mir, wie eine schwarze Wolke, und ich wollte nur noch schreien und um mich schlagen. Vor meinen Augen tanzten Flecken, und ich sah alles nur noch ganz undeutlich. Die alte Schnalle stand immer noch da, hatte den Kopf schräg gelegt und wollte was von Lilien hören.
»Raus hier!«, schrie ich, und es tat gut, zu sehen, wie sie zusammenzuckte. »Ich sagte, RAUS HIER!«
Ein Teil von mir nahm die Stimme meines Chefs wahr, die hinter mir laut wurde. Auch die alte Dame muss irgendwas gesagt haben, denn ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Aber die einzigen Worte, die ich hören konnte, kamen aus meinem eigenen Mund. Es war eigentlich nur eins, das ich immer wieder schrie: »Raus-raus-raus-RAUS!« Es war wieein Steinhagel, mit dem ich diese dumme, zeitraubende alte Schachtel raustrieb aus meinem Gewächshaus, aus meinem Laden.
Ich weiß nicht genau, was als Nächstes passiert ist. Ob es Sekunden, Minuten oder Stunden gedauert hat, bis meine Wut wieder weg war und sich die blinden Flecken vor meinen Augen wieder mit Farbe füllten. Ich stand in der Tür zwischen Laden und Gewächshaus und versuchte zu begreifen, was passiert war. Hatte ich wirklich so geschrien, oder war das nur ein Traum?
Aber es konnte kein Traum gewesen sein, weil mein Chef vor mir stand und sagte, dass ich gefeuert war.
Juli
Cynthia rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Der Konferenzraum des Riverside Hospital schien keine Klimaanlage zu haben, und die Freitagnachmittagssonne, die durch die Fenster fiel, machte die Luft nur noch stickiger. Sie sah auf die Uhr. Halb drei. Der Arzt müsste jeden Moment hier sein.
Normalerweise hasste Cynthia Pressekonferenzen. Allein schon das Ambiente, die dem Podium zugewandten Plastikstuhlreihen, die Power-Point-Präsentationen und die Hände, die sich reckten, wenn Fragen gestellt werden durften. Wie in der Schule. Aber diese Pressekonferenz hatte sie neugierig gemacht: Dr. James Livington, ein bekannter Neurologe, ergriff für 24/7 Partei. Durchaus bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass alle anderen Mitglieder der Ärztezunft seit fünf Monaten ins selbe Horn stießen und lautstark ihre Besorgnis äußerten. Cynthia war neugierig auf den Mann, der so beherzt widersprach. Da Marcus mitetwas anderem beschäftigt war, hatte sie angeboten, über die Konferenz zu berichten.
Sie blätterte ihre Pressemappe durch. Obenauf lag James Livingtons Lebenslauf: leitender Neurochirurg, Universitätsdozent, regelmäßiger Autor des New Scientist sowie Verfasser eines Buchs über Gehirnfunktionen namens States of Mind. Beeindruckend. Das nächste Blatt trug die Überschrift »Zahlen und Fakten«. Der erste Punkt setzte Cynthia davon in Kenntnis, dass »übermüdete Autofahrer im letzten Jahr 852 Verkehrsunfälle in
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