Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
sagte wie »Die Nacht gehört uns« und »Wir sind die Einzigen, die um diese Uhrzeit wirklich leben«. All die Sätze, die doch für mich bestimmt waren. Ich dachte schon, es könnte nicht schlimmer kommen, als die beiden Schatten anfingen, sich vor und zurück zu bewegen. Ich wusste, was das bedeutete: Die beiden vögelten, hier unter der Brücke. Alles in mir brach zusammen. Und dieser Schmerz – ich hatte nicht gewusst, dass es so einen Schmerz geben kann.
Nein. Ich musste zu ihr, das beenden, was sie da tat. Das Boot trieb einen halben Meter vom Ufer entfernt dahin, aber ich sprang trotzdem an Land. Es war mir egal, dass es nicht festgemacht war. Ich landete auf allen vieren auf demAsphalt, wobei ich mir die Handflächen aufschürfte. Dass ich weinte, merkte ich erst, als ich hochschaute und alles nur noch verschwommen sah. Ich blieb eine Ewigkeit auf Händen und Knien, während meine Tränen auf den Boden tropften. Die ganze Welt war nur noch ein schwarzes Loch, das mich verschluckt hatte. Ich dachte daran, in den Kanal zu springen und nie mehr aufzutauchen. Dann konnte sie mir wenigstens nicht mehr wehtun.
Aber dann kam die Wut. So etwas Großes, Übermächtiges hatte ich noch nie erlebt. Sie raste in meinem Inneren wie ein Feuer und brannte alles andere nieder: den Schmerz, die Trauer und die Liebe.
Bis nichts mehr übrig war außer Zorn.
Cynthia starrte auf das Gesicht der Toten, während das Taxi eine kopfsteingepflasterte Nebenstraße zum Tudor Park hinunterratterte. Es war Montag, und sie hatte den Vormittag damit verbracht, die Tatorte des Barbie-Killers abzuklappern für eine Reportage, die in der Sonntagsbeilage des Sentinel erscheinen sollte. Phoebe Albertsons Foto lag auf ihrem Schoß. Es zeigte eine hochgewachsene, blasse Frau, die irgendwo auf dem Land an einem Viehgatter lehnte. Sie war nicht im klassischen Sinne schön, dafür war ihre Nase ein bisschen zu groß. Aber sie hatte ein offenes, sympathisches Gesicht. Hinter ihr war ein grasbewachsener Hang mit Schafen zu sehen. Die Sonne tauchte die Szene in helles Licht und wurde von Phoebes gewelltem Haar reflektiert. Ihrem langen, blonden Haar.
»Tudor Park. Wir sind da.«
Die Stimme des Fahrers riss Cynthia aus ihren Gedanken. Das Taxi hatte direkt am Park gehalten, auf der Seite, die nicht mit dichtem Gebüsch bewachsen war. Cynthia verstaute das Foto wieder in ihrer Handtasche, zahlte und trat in den kalten Nachmittag hinaus. Der Wind wehte jetztstärker, und sie schlug den Kragen hoch, um ihre Wangen zu schützen.
Sie ging an der Statue eines Königs auf einem sich aufbäumenden Pferd vorbei und blieb neben dem dahinterliegenden Spielplatz stehen. Der einzige andere Parkbesucher war ein Mann, der einen Deutschen Schäferhund ausführte. Cynthia brauchte nur wenige Minuten, dann hatte sie den Leichenfundort entdeckt. Phoebe war schon mindestens eine Stunde tot gewesen, als der Mörder sie hier abgelegt hatte. Wie war das möglich? Dafür hätte er die Leiche fünfunddreißig Meter weit über ein gut beleuchtetes, offenes Gelände schleppen müssen, das noch dazu von der Straße aus einsehbar war.
Sie konzentrierte sich auf die Reihe viktorianischer Häuser hinter der Hecke. Vielleicht hatte der Mörder die Leiche von der anderen Seite ins Gebüsch geschoben. Aber in diesem Fall hätte er sie über die hohen Gartenmauern hieven müssen, die von den Fenstern aus gut sichtbar waren. So etwas wäre doch sicherlich nicht unbemerkt geblieben? Wie hatte er es geschafft, sein Opfer zu erwürgen, der Toten die Haare zu flechten, sie durch ganz London zu kutschieren und hier abzulegen – und zwar ohne von irgendjemandem gesehen oder gehört zu werden? Es schien unmöglich.
Sie starrte auf das Gras zu ihren Füßen. Ihm war nicht anzusehen, dass hier etwas Furchtbares passiert war. Ein weiterer eisiger Windstoß erfasste Cynthia und ließ sie frösteln. Was suchte sie hier eigentlich? Hatte sie ernsthaft erwartet, etwas zu finden, das die Polizei übersehen hatte? Lächerlich!
Trotzdem zückte sie ihren Notizblock und begann, eine Skizze zu machen. Sie zeichnete den gesamten Park: Spielplatz, Bäume, Hecken und Straße. Zum Schluss fügte sie noch die Reiterstatue und die viktorianischen Häuser hinzu, deren Fenster auf den Leichenfundort hinausgingen. Aberwenn sie für ihren Artikel die Atmosphäre angemessen einfangen wollte, müsste sie eigentlich nachts noch einmal wiederkommen. Cynthia dachte an Phoebe Albertson, daran, wie sie auf dem
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