Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
Farbtupfer ergänzt hatte, ohne dass es wirklich neue Erkenntnisse gab. Sie ließ sich seufzend in ihrem Stuhl zurücksinken. Vielleicht sollte sie lieber versuchen, aus der Opferperspektive zu berichten und den Moment schildern, als Nicole Whiteman sich aus der schützenden Umarmung ihres Mannes löste und ihrem Tod entgegenging. Als Phoebe Albertson sich von ihrem Freund trennte. Oder als Moira sich zum letzten Mal von Simon Caulder verabschiedete.
Wobei – seltsam, dass so viele Frauen kurz vor ihrem Tod mit ihrem Partner zusammen gewesen waren. Sie griff nach ihrem Notizblock und überflog mit wachsender Aufregung die Liste mit den Namen der Opfer. Mary Davies, Phoebe Albertson, Nicole Whiteman, Moira Yates und Andrea Prescott … sie alle waren mit einem Mann zusammen gewesen, bevor sie ermordet worden waren: mit ihrem Freund, Ehemann oder Liebhaber. Oder, wie im Fall von Mary Davies, mit ihrem Freier. Sie hatten sich alle verabschiedet.
Ich habe sie geküsst. Sie ist gegangen und wurde ermordet.
Simon Caulders Worte schoben sich ungebeten in ihr Bewusstsein. Cynthias Blick huschte zur Liste zurück. Ein Kuss – jedes der Opfer hatte einen Mann geküsst, bevor es ermordet worden war. Im Fall von Mary Davies war es wahrscheinlich nicht nur bei einem Kuss geblieben.
Aber es gab eine bemerkenswerte Ausnahme: Lisa Reed.Sie war mit Freunden aus gewesen. Dem Polizeibericht zufolge hatten sie die junge Frau bis zu der Straße begleitet, in der ihre Eltern wohnten. Cynthia starrte blind auf den Computerbildschirm. Mrs Reeds Stimme fiel ihr wieder ein, geistesabwesend und wie aus weiter Ferne, im Hintergrund das viel zu laute Ticken der Uhr. Da war dieser junge Mann, Greg. Cynthia dachte kurz nach. Dann griff sie zum Telefon und rief Nick an.
»Ich hab das doch alles schon der Polizei erzählt«, sagte Greg McGuire. Sie saßen in der Cafeteria der Universitätsbibliothek. Studenten beugten sich über abgewetzte Holztische und aßen von Plastiktabletts. Hin und wieder klirrte Besteck, doch abgesehen davon war es erstaunlich still – so still als würden die Bibliotheksregeln die Studenten noch bis in die Mittagspause verfolgen.
»Ich weiß«, sagte Cynthia. »Aber ich dachte, Sie haben bestimmt nichts dagegen, es noch mal kurz mit mir durchzugehen.« Sie hatte eine große Kanne Tee für sie beide gekauft. Gregs Tasse stand unangerührt vor ihm auf dem Tisch. Er seufzte. »Wir waren zu fünft«, sagte er. »Wir waren in einer Kneipe in der Edgware Road und sind erst spät gegangen, so gegen drei. Lisas Eltern wohnen ganz in der Nähe, also haben wir sie begleitet. Wir waren erst ein, zwei Minuten gelaufen, als ein Taxi auftauchte. Lisas Haus war nur eine Straße weiter, deshalb meinte sie, wir sollten das Taxi ruhig nehmen, sie würde den Rest allein zu Fuß gehen.« Sein Gesicht verzog sich bei der schmerzlichen Erinnerung. »Ich hätte darauf bestehen müssen, sie zu begleiten.« Er starrte auf den Tisch hinunter. »Aber wir haben uns verabschiedet, sind ins Taxi gestiegen – Schluss, aus. Und damit war auch ihr Leben vorbei.«
Cynthia beugte sich vor, versuchte, Blickkontakt herzustellen. Aber Greg starrte in seine Teetasse.
»Haben Sie sie zum Abschied geküsst?«, fragte sie leise.
Er sah abrupt auf, Erstaunen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Wie bitte?«, fragte er abweisend, als wäre das eine Falle.
Cynthia wurde schwindelig vor Aufregung. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen, das spürte sie. Sie legte eine Hand auf Gregs Arm. »Als Sie sich verabschiedet haben, da haben Sie sie geküsst, nicht wahr?«
»Ich wüsste nicht, was Sie das …«
»Ja oder nein?«
Er griff zu seiner Teetasse und stellte sie wieder ab. Er lächelte ein leises, trauriges Lächeln.
»Ja, ich habe sie geküsst«, sagte er. »Die anderen drei sind zuerst eingestiegen, sodass Lisa und ich noch kurz allein geblieben sind. Ich habe sie hinter einen Baum gezogen und geküsst. Das hatte ich schon seit Längerem vor, und an diesem Abend hatte ich endlich den Mut dazu gefunden.« Er zuckte die Achseln. »Unser erster Kuss. Und auch unser letzter.«
Cynthia war so elektrisiert, dass sie beinahe aufgesprungen wäre. Stattdessen rutschte sie nervös auf ihrem Stuhl hin und her, während ihre Gedanken sich überschlugen. Der Mörder musste die Frauen beobachtet haben, bevor er sie tötete. Vielleicht war er ein Voyeur. Oder ein religiöser Eiferer, der sich von Unzuchttreibenden provoziert fühlte. Oder aber er war einfach nur
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