Du sollst nicht sterben
als die Polizei am Tatort erschien, war sie nun in einen beinahe katatonischen Zustand verfallen.
Manche Opfer erklärten, die Vergewaltigung sei wie ein Mord an ihrer Seele gewesen. Genau wie bei einem Mord gab es kein Zurück. Keine Therapie der Welt würde aus Roxy Pearce wieder die Frau machen, die sie einmal gewesen war. Sicher, mit der Zeit würde sie sich erholen, wieder funktionieren und ein scheinbar normales Leben führen, aber der Schatten der Angst würde sie immer verfolgen. Es würde ihr sehr schwerfallen, jemals wieder einem Menschen zu vertrauen.
»Sie sind hier sicher, Roxy«, sagte Claire lächelnd. »Sicherer als hier sind Sie nirgendwo. Er kann Sie nicht finden.« Keine Antwort. Es war, als redete sie mit einer Wachspuppe.
»Ihre Freundin Amanda ist gekommen. Sie ist nur eine rauchen gegangen. Sie bleibt den ganzen Tag bei Ihnen.« Claire lächelte wieder.
Ausdrucksloses Gesicht. Tote Augen. Sie war wie betäubt.
Roxy Pearce registrierte die magnolienfarbenen Wände des kleinen Raums. Frisch gestrichen. Die runde Uhr. 12.35 Uhr. Im Regal Schachteln mit blauen Latexhandschuhen. Kartons, die Spritzen, Tupfer und steril verpackte Ampullen enthielten. Ein rosa Stuhl. Eine Waage. Ein Waschbecken mit zwei Spendern, Feuchtigkeitscreme und desinfizierende Seife. Ein Telefon auf einer kahlen weißen Arbeitsplatte. Ein klappbarer Paravent auf Rollen.
Tränen traten in ihre Augen. Wenn doch Dermot hier wäre. In ihrem verwirrten Kopf wünschte sie sich, sie wäre ihm nicht untreu gewesen, hätte nicht diese verrückte Sache mit Iannis angefangen.
Dann platzte sie unvermittelt heraus: »Es ist alles meine Schuld, oder?«
»Wie kommen Sie denn darauf, Roxy?«, fragte die Beamtin und machte sich Notizen. »Sie dürfen sich überhaupt keine Schuld geben.«
Doch Roxy versank wieder in Schweigen.
»Sie brauchen noch gar nichts zu sagen, Liebes. Wir müssen uns heute nicht unterhalten, wenn Sie nicht möchten, aber wir müssen kriminaltechnische Proben von Ihrem Körper nehmen, damit wir den Mann fassen können, der Ihnen das angetan hat. Sind Sie einverstanden?«
Nach kurzem Zögern sagte Roxy: »Ich fühle mich schmutzig. Ich möchte duschen. Geht das?«
»Natürlich, Roxy«, sagte die Ärztin. »Aber jetzt noch nicht. Wir wollen doch keine Beweise abwaschen, oder?« Sie klang ein bisschen herrisch, wenn man den labilen Zustand des Opfers bedachte.
Erneutes Schweigen. Roxys Gedanken blieben an Nebensächlichkeiten hängen. Sie hatte zwei von Dermots besten Flaschen geholt. Die standen noch irgendwo. Ach ja, auf dem Küchentisch und im Kühlschrank. Sie musste nach Hause, bevor er es bemerkte. Sonst würde er durchdrehen.
Die Ärztin schnappte sich ein Paar Latexhandschuhe und holte einen Gegenstand aus der sterilen Verpackung. Es war ein kleines, scharfes Instrument, mit dem man Proben unter Fingernägeln entnehmen konnte. Möglicherweise hatte die Frau ihren Angreifer gekratzt. Dann wären in den Hautzellen seine DNA-Spuren enthalten.
Roxy Pearce musste einiges erdulden. Bevor sie duschen durfte, würde die Ärztin Abstriche von jedem Teil ihres Körpers nehmen, mit dem der Angreifer womöglich in Kontakt gekommen war, und diese auf Speichel, Sperma und Hautzellen untersuchen. Sie würde ihr Schamhaar kämmen und vaginale Abstriche nehmen. Danach würde sie den Prozess am Anus wiederholen. Sie würde ihren Blutalkohol prüfen, ihren Urin untersuchen und alle Verletzungen des Genitalbereichs im Protokoll verzeichnen.
Während sie sich jeden einzelnen Fingernagel vornahm und die Funde einzeln eintütete, machte Claire Westmore Roxy Mut. »Wir werden den Mann fassen, Roxy. Darum machen wir das alles hier. Mit Ihrer Hilfe können wir verhindern, dass er das noch anderen Frauen antut. Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, aber vergessen Sie das bitte nicht.«
»Ich weiß gar nicht, warum Sie sich die Mühe machen«, sagte Roxy unvermittelt, als die Ärztin unter den Nägeln ihrer linken Hand zu kratzen begann. »Nur vier Prozent aller Vergewaltiger werden verurteilt, oder?«
Claire Westmore zögerte. Sie hatte gehört, dass es landesweit sogar nur zwei Prozent waren – vor allem, weil nur ein geringer Prozentsatz aller Vergewaltigungen angezeigt wurde. Doch sie wollte es für die arme Frau nicht noch schlimmer machen. »Das ist nicht ganz korrekt. Aber die Zahlen sind niedrig. Das liegt daran, dass nur wenige Opfer so viel Mumm haben wie Sie, Roxy. Sie haben nicht den Mut, sich zu melden, so wie
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