Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Jetzt, wo er sich unbeobachtet fühlt, schluchzt er hemmungslos. Auf Zehenspitzen gehe ich auf mein Zimmer zurück. Trinken kann ich auch morgen noch.
Das Festmahl
Am kommenden Abend gibt die Familie Abdul Latifs Julia, Khaled und mir zu Ehren ein großes Festessen. Es ist von unbeschreiblicher Köstlichkeit. Es gibt traditionelle libysche Suppe, Couscous, knusprige Hähnchen und noch krosseren Fisch. Ich esse und esse. Die Stimmung aller, der Familie und der geladenen Freunde, ist locker und liebevoll.
Julia verbringt die meiste Zeit bei den Frauen. Abdul Latifs Schwester schenkt Julia ihr eigenes Lieblingsparfüm. Fotos werden ausgetauscht, Familiengeschichten erzählt. Abdul Latifs Brüder sind stolz, dass ich beim Essen so zuschlage. Jeder versucht, die besten Hähnchenteile und Fischstücke vor mich zu stellen.
Ahmad erzählt, dass Abdul Latif seine letzten zwei Nächte damit verbracht habe, mein Buch Warum tötest du, Zaid? zu Ende zu lesen. Da er ständig davon erzählt habe, wollte auch Ahmad einmal reinschauen. Aber Abdul Latif habe ihn nicht rangelassen. In der Nacht vor seinem Tod sei er durch gewesen.
Ahmad nimmt mich zur Seite. Die Familie habe das Zimmer Abdul Latifs nach seinem Tod abgeschlossen. Keiner habe es seither betreten. Aber mir, seinem letzten Freund, wolle er es zeigen. Über eine knarrende Stiege betreten wir den kleinen Arbeitsraum. Es riecht nach den Tausenden Büchern, die sich auf dem Boden, dem Schreibtisch und in den Regalen stapeln. Hier hat ein Bücherwurm gelebt.
Ahmad klettert auf Abdul Latifs Bett, um an dessen Geheimregal zu kommen. Er holt drei Bücher herunter, die sein Bruder immer wieder gelesen hat. Ich halte den Atem an. Es sind englische Ausgaben von Goethe, Nietzsche und Heidegger.
Als wir aufbrechen, hat die Familie für Julia, Khaled und mich alles zusammengepackt, was bei dem Festmahl nicht serviert worden war. Fisch, Hühnchen, Lamm und Unmengen von Obst. Sie wissen, dass das Essen im Ouzo-Hotel bescheiden ist. Sie sind voller Freude, als sie unsere strahlenden Gesichter sehen. Was für eine Familie!
Die Augen Abdul Latifs
Zum Freitagsgebet gehen wir auf den Platz der Freiheit und der für die Freiheit Gefallenen. Hier herrscht fast noch die gleiche revolutionäre Volksfeststimmung, die mir Abdul Latif vor Monaten so stolz präsentiert hatte.
Tausende bereiten sich für das Gebet unter freiem Himmel vor. Nur zwei Scharfschützen auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser sichern den Gottesdienst. Wie auf all meinen Reisen in andere Kulturen – egal, ob hinduistische, buddhistische oder jüdische – nehme ich auch hier am Gebet teil. Es ist heiß. Die Mittagssonne brennt unerbittlich auf uns herab.
Als der neben mir betende Libyer erfährt, dass ich deutscher Christ bin, gibt er mir seinen Gebetsteppich. Ein anderer schenkt mir seinen weißgrauen Schal zum Schutz vor der sengenden Sonne. »Ich hoffe, Sie sind uns nicht böse, dass wir die deutsche Haltung zur NATO -Intervention kritisiert haben«, flüstert er mir zu. »Deutschland ist für uns trotzdem etwas Besonderes.«
Nach dem Gebet gehe ich zu dem angrenzenden Gerichtsgebäude. Hier begann der Aufstand. Wie oft war ich mit Abdul Latif hier! An den Wänden hängen die Bilder der Märtyrer. Jetzt sind es nicht Dutzende, sondern Tausende Fotos getöteter Libyer – Kinder, Jugendliche, Männer und auch Frauen.
Plötzlich stehe ich vor einem großen Foto Abdul Latifs. Fragend schaut er mich an. Wie vom Blitz getroffen schließe ich die Augen. Das letzte Mal hatte er mir noch all die Bilder der Gefallenen erklärt. Jetzt ist er selber einer von ihnen. Mein lächelnder Held. Einer von Tausenden und doch einzigartig.
Es ist Juni 2011. Noch immer toben die Kämpfe zwischen Gaddafis Truppen und den Rebellen.
Der Fall von Tripolis
Wenige Minuten vor dem Tod Abdul Latifs hatten wir vereinbart, uns in Tripolis zu treffen, sobald die Hauptstadt gefallen sei. Im Juni traf ich die gleiche Vereinbarung mit seinem Bruder Ahmad. Es war ein feierliches Versprechen.
Am 21. August 2011 eroberten die Rebellen Tripolis. Ich versuchte, Ahmad telefonisch zu erreichen, und erfuhr, dass er auf dem Weg nach Tripolis sei. Einen Tag später saßen Julia und ich im Flugzeug. Über Tunis und die Insel Djerba wollten wir uns nach Tripolis durchschlagen.
Ein in Djerba lebender Exil-Libyer brachte uns zum Grenzübergang Dehiba. Dort klapperte er ein Dutzend Fahrzeuge ab, um jemanden zu finden, der uns nach Tripolis
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