Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Titel: Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Todenhöfer
Vom Netzwerk:
und setze mich zwischen die Gefangenen. Die sind erst völlig verblüfft. Doch als ich unser Gebäck verteile, werden sie putzmunter.
    Die meisten von ihnen sind Mitte zwanzig und patente junge Leute. Sie kämpfen zwar für die falsche Seite. Aber wer wusste noch vor einem Jahr, welches die richtige Seite war? Ich verbringe ungewöhnlich offene, ja sogar lustige Minuten mit den »Feinden« von vorgestern. Alle haben in der Gegend von Brega und Adschdabiya gekämpft. Einer von ihnen hat uns vielleicht beschossen.
    Wir reden über Fußball, Politik und über Deutschland. Einer ruft mir zu, ich solle mich nur ja vor dem Gefängnisvorsteher in Acht nehmen. Das sei ein Fan Gaddafis. Doch der steht neben mir und ruft lachend zurück: »Pass du bloß auf!« Alle prusten los.
    Die Tür zur gegenüberliegenden Zelle ist verschlossen. Durch die dunklen Gitterstäbe streckt mir ein gefangener Soldat die Hände entgegen. Ich gebe ihm von unserem Gebäck. Er freut sich wie ein Kind und ruft seinen Kameraden etwas zu. Jetzt muss ich auch in diese Zelle. Hier sitzen unter anderem die beiden schwarzen Gefangenen. Als ich mich neben sie setze und die Reste des Gebäcks verteile, lachen sie erstmals richtig. Wer setzt sich in diesen Zeiten schon zu gefangenen dunkelhäutigen Gaddafi-Soldaten? Zu Kämpfern, die der Krieg vielleicht zu Mördern, Plünderern und Vergewaltigern gemacht hat?
    Draußen vor dem Gefängnis bedanke ich mich bei dem Offizier für die Art, wie er die Gefangenen behandelt. Mehrfach hätten mir die Gaddafi-Kämpfer gesagt, dass sie ihn fair fänden. Das sei seine Pflicht, antwortet er. Gefangene Soldaten seien wie Waisenkinder. Er müsse sie wie ein Vater behandeln. Alles andere sei Sünde. Außerdem könne schon morgen alles genau umgekehrt sein.
    Der kleine Held
    Gedankenverloren sitze ich abends im Hotel. Hinter mir höre ich das Geräusch von Krücken. Ein einbeiniger Junge im weißen T-Shirt und blauen Bermudahosen humpelt durch die Hotelhalle. Er grüßt schüchtern. Ich frage ihn, wie es ihm gehe. »Bestens«, antwortet er auf Englisch. Er versucht, seine zuckenden Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.
    Hassan ist 18 Jahre alt. Er hatte gerade sein Ingenieursstudium begonnen, als er im Kampf um Misrata sein linkes Bein verlor. Vor drei Monaten. Sechs Tage nach dem Tod Abdul Latifs. Immer wieder verkrampft sich seine linke Hand um die Lehne des Sessels. Mit der anderen Hand kratzt er verstohlen seinen Beinstumpf. Tapfer versucht er, trotz seines zuckenden Gesichts zu lächeln.
    Er fragt, ob er mir auf seinem Laptop das Bild seiner Verwundung zeigen könne. »Natürlich«, sage ich und hätte doch am liebsten Nein gesagt. Das Bild ist so grauenerregend, wie ich befürchtet habe. Eine riesige blutige Fleischwunde. Wegen der Schwere der Verletzung und wegen der schlechten hygienischen Verhältnisse wurde das Bein sofort abgenommen. Ein Mann am Nachbartisch sagt laut, Hassan sei ein Held.
    Das ist er wohl auch. Ein Kinderheld. Ich erzähle ihm lauter lustige Dinge. Er lacht und lacht. Mit seinem jungen Gesicht, das so traurig ist. Je mehr es mir gelingt, ihn zum Lachen zu bringen, desto mehr ist mir zum Weinen zumute. Ich gebe ihm Tipps für seine zukünftige Prothese. Da kenne ich mich leider aus, seit ich irakischen Kindern Prothesen besorgt habe. Hassan erzählt mir, dass er sogar wieder Auto fahren könne. Die Kupplung bedient er mit der Krücke. Er würde gerne wieder kämpfen und dann sein Studium fortsetzen.
    Hassan kommt oft in die Lobby des Ouzu-Hotels. Um nicht vergessen zu werden. Und um seine Geschichte erzählen zu können. Welchen Sinn hätte sein Leben sonst noch? Vielleicht wollen die Menschen in ein paar Jahren nichts mehr von seiner Verwundung hören. Vielleicht ist er dann einfach nur noch ein Krüppel.
    Als sein Gesicht wieder zuckt, erzähle ich ihm erneut fröhliche Geschichten. Vom Fußballspielen, von meiner Jugend, von Mädchen, vom Studium, von Pech und Pannen meines Lebens. Und wieder lacht er, erst scheu, dann immer vergnügter. Sein Gesicht zuckt kaum noch.
    Nachts finde ich keinen Schlaf. Meine Gedanken kreisen um die Revolution und ihre Opfer. Um die verkohlten Soldaten Gaddafis, die Gefangenen von Bengasi, um Abdul Latif und Hassan. Um 3 Uhr nachts gehe ich in die Hotelhalle, um etwas zu trinken zu holen. Selbst Wasser gibt es in den schmuddeligen Zimmern des Hotels nicht.
    In einer dunklen Ecke der Lobby sehe ich Hassan. Völlig in sich zusammengefallen sitzt er alleine da.

Weitere Kostenlose Bücher