Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
angebracht, das Rumpeln in den Eingeweiden ein bisschen gewähren zu lassen und sich dann daran zu erinnern, dass man unter der betörenden Ruhe eines sechzehn Jahre späteren Sonntages in der Klinik liegt und nicht mehr so einfach zur Toilette kommt wie damals.
Als sie aufwacht, ist es noch dunkel draußen. Tief und traumlos hat sie geschlafen, glaubt sie. Auf die andere Seite wälzen. Decke runter. Decke wieder rauf, doch ein bisschen zu kühl. Kopf hoch, Kopf wieder runter. Sie ist immer noch mit der Bandner allein? Als sie den Kopf noch einmal hebt, um sich dessen zu vergewissern, prustet sie los: Die Bandner glotzt selig lächelnd den Mond an, der ihr aufs Gesicht scheint. Nein, das ist nicht der Mond, der müsste ja auch in jenes Fenster hereinscheinen, das Helenes Bett am nächsten ist. Es ist eine Laterne, die den Weg draußen zu den kostenlosen Parkplätzen erleuchtet. Ganz genau scheint sie fokussiert auf das Gesicht der Bandner, die irgendjemand gesalbt haben muss, so glänzen die Fettbacken! Ein göttlicher Anblick. Selten hat Helene die Bandner lächeln sehen. Sie grinst, wenn sie sich beschissen, sie grinst, wenn sie den Joghurt, den sie neben der Sondenernährung löffeln darf, der Schwester ins Gesicht gespuckt hat. Süffisant. Komisches Wort, denkt Helene. Dass es ihr an dieser Stelle eingefallen ist! Mit Suff hat es nichts zu tun. Sie erinnert sich, das ein paar Jahre lang geglaubt zu haben: ein seliges Alkohollächeln. Bis sie im Wörterbuch nachschlug.
Still liegt sie jetzt, und ihr Denken schlägt sich zum gestrigen Abend durch. Matthes’ Affäre . Sein Verhältnis . Ihre Nebenbuhlerin . Seine Kebse . Das Rumpeln in den Eingeweiden fällt ihr ein und dass sie versucht hatte, es zu beruhigen, weil sie die Kahnfahrt zur Toilette mit der Schwester hatte vermeiden wollen. Eingeschlafen war sie darüber. Je stiller sie liegt, desto lauter werden die Bilder. Heidruns Töchter an Matthes’ Hand. Das Herz hatte ihr zum Halse heraus geschlagen, als sie ihn mit ihnen sah in der Kaufhalle, sie war hinter ein Regal gesprungen und hatte die Schwiegermutter, die sie begleitete, wohl angesehen wie ein verstörtes Mädchen. Die hatte Matthes dann auch erspäht, war schnurstracks zu ihm hingelaufen und hatte ihm eine geklebt, geschwalbt, gedrückt, verpasst (Helene weiß gar nicht, was sie deutlicher fühlt, die damalige Aufregung oder die Freude darüber, dass Wörter sie anfliegen …), dass er mit einseitig gerötetem Gesicht und den beiden Mädchen an der Hand wortlos davongeschritten war. Ja, geschritten ist wohl das richtige Wort: Betont langsam, Storch im Salat , war er hinausgegangen, hatte seinen gefüllten Korb einfach stehen gelassen. Sie hatte ihm nicht nachsehen können. Das Haus, in dem Heidrun wohnte, lag nur eine Straßenecke entfernt, sie hatte beständig Angst gehabt, Matthes zu begegnen. Ihr Urlaub stand bevor. Gemeinsam hatten sie Harz gebucht mit den Kindern. Die Schwiegermutter wollte nun mitkommen an seiner statt. Das war nett, aber eigentlich unerträglich.
Eines Abends klingelte es, und Matthes stand vor der Tür, bat Helene zum Spaziergang, die Schwiegermutter billigte das. Das große Zittern war sie angekommen, aber sie hatte die Jacke übergezogen und war tapfer hinuntergegangen, wo Matthes ihr erklärte, dass er es als seine Pflicht ansähe, mit ihr in Urlaub zu fahren.
- - -?
Ihr Herz hatte für den Moment gestockt, sich aber dann des Weiterschlagens besonnen. Sie hatte nichts erwidert. Nichts erwidern können. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Matthes hatte sie verlegen grinsend angesehen und gefragt, wann es genau losginge. Zwei Tage später hatten sie sich am Bahnhof getroffen. Was Heidrun dazu sagte? Wieder verlegenes Grinsen. Die Fahrt über hatten sie sich manchmal wie scheu verliebte Teenies angesehen. Wenn sie ihn zufällig berührte, waren die Stellen heiß geworden, als ob die Haut sich auflöste. Sie hatte sich gefragt, ob die prickelnde Hitze nur sie angefallen hatte. Mit den damals drei Kindern hatten sie zwei Zimmer im Betriebserholungsheim bekommen. Helene hatte erst einmal Ruhe gewollt. Kein Gespräch angefangen. Die Kinder waren wie immer gewesen, lieb und zutraulich, Lissy papaversessen, die Jungen distanziert. Schon in der ersten Nacht hatte sie nach ihm gelangt und ihn bekommen. Und Heidrun?, hatte sie fragen wollen, aber Heidrun war nicht hier, nicht dabei, zum Glück, ihrem Glück, nicht Heidruns. Am Morgen dann wieder Abstand, nicht übergroß, aber
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