Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
gespannter Erwartung aufgedrängt. Mareile hatte ein Stück probiert, die Tafel aber dann nicht etwa mit auf ihr Zimmer genommen, sondern sie im familiären Süßigkeitenfach verschwinden lassen, hoffend, sie möge jemand anderem schmecken. Lissy hatte mit Verweis auf Magen-Darm-Infekt auf schwarzer Schokolade bestanden, und Lottchen hatte gemeint, Vollmilch nicht zu mögen, sondern nur Kinderschokolade. Als sie später allein gewesen war, hatte sie Mareiles Tafel aus dem Fach genommen und mit geschlossenen Augen ein kleines Stück davon auf die Zungenspitze gelegt, gegen den Gaumen gedrückt und mit langsam kreisenden Zungenbewegungen zum Schmelzen gebracht. Nein, diese Schokolade hatte nicht die erwartete, leicht sandige Konsistenz gehabt … Helene wischt sich den Lachfaden ab, der herunterhängt in die Kaffeetasse. Carola fragt noch einmal, ob sie wirklich nicht wenigstens einen Joghurt essen wolle. Joghurt? Da ist es, das Ende der Affäre : Matthes hatte nach sieben Heidrunwochen, fünf vor, zwei nach ihrem gemeinsamen Urlaub, eines Morgens vor ihrer Tür gestanden, mit Joghurt im Beutel, kleine Viertelliterflaschen, mit dunkelroter Fruchtessenz unter dem Aluminiumdeckel. Sie liebte diesen Joghurt.
Er hatte ihn schließlich aus ihrer Bauchmulde gelöffelt.
Matthes kommt zwei Stunden später, auch er ist krankgeschrieben. Warum? Keine Antwort. Sie ist verärgert. Schiebt die Decke hinunter und das Nachthemd hinauf. Langsam öffnet sie den Joghurtbecher, den sie vom Frühstück mitgenommen hat, und lässt das Zeug auf den Bauch platschen. Keine Mulde mehr da wie vor sechzehn Jahren, es läuft links und rechts an den Seiten hinab aufs Laken. Ein Häufchen bedeckt den Nabel. Ihr Blick? Fordert nichts, hat sich verschlossen. Geschlossene Veranstaltung kann man demgegenüber aber nicht sagen, denn Renja Mittelner schaut verständnislos, was Helene nicht sieht, und einer der Zivis, die hier Dienst tun, kommt eben herein. Helene hält den Löffel stur nach oben, zwanzig Zentimeter vor Matthes’ Kopf, sie wartet. Soll er ihr doch aus dem Bauch fressen! Ist doch was anderes als aus der Hand, oder? Ihren Ärger kann sie gar nicht so richtig benennen, es ist, als hätte sich alle Wut der Welt ausgerechnet in ihr erkältet und dränge plötzlich in einem gewaltigen Hustenanfall nach draußen, der Joghurt springt im Rhythmus der Kontraktionen und verteilt sich weiter, und Matthes wirft ihr jetzt die Decke über den Leib und sich darüber hin, beruhigen soll sie sich. Beruhigen. Dass er auf ihr liegt, macht sie aber zunächst noch wütender, sie schreit sich’s mit Lust heraus aus den Eingeweiden, das Versehrtsein, dass es ihr nicht mehr so schwer auf Magen und Niere liege, soll’s doch ruhig draußen bleiben, denn tief innen ist sie doch dieselbe Helene wie vordem! Der Zivi kommt Matthes zu Hilfe, gemeinsam halten sie sie fest. Erstaunen, wie viel Kraft in diesem Körper steckt, der nicht stehen noch gehen kann. Gerade gibt sie sich eine Eins im Fach Aufbegehren, da fällt der schöne Mut auch schon in sich zusammen und lässt ein Häufchen zurück. Kein Elend, nur Späne der Revolte, die durchaus noch zu Asche werden könnten, wenn sie nicht aufpasst. Sie will sich nicht unter Spannung setzen, den Rest verbrennen lassen. Ruhiger atmen. Nun doch. Nun doch.
Am Nachmittag kommt Matthes zum zweiten Mal an diesem Tag. Helene liegt, den Kopf zum Fenster gedreht, im Bett. Als er sich auf den Stuhl gesetzt hat, schweigend, fragt sie ihn plötzlich, ob sie früher eine politische Beziehung miteinander gehabt hätten. Natürlich hätten sie eine positive Beziehung miteinander, wie hätte die denn sonst so lange halten können … Immer noch der zum Fenster gedrehte Kopf, er sieht ihren Mund nicht.
Aber nein, eine politische !
Sie ärgert sich, dass er falsch versteht, die Schuld unentschieden sich und ihm zuschreibend, in schnellem Wechsel.
Er sagt nichts.
Er hält das für eine dumme Frage? Sie wird rot. Dumme Frage, in der Tat. Politische Beziehungen sind solche zwischen Staaten, bilateral oder multilateral, sicher, ihr fällt aber nicht ein, wie sie das, was sie meint, umschreiben könnte.
Ich liebte dich, seit ich dich zum ersten Mal sah. Seine Augen gehen dabei auch aus dem Fenster, vielleicht treffen sich ihre Blicke ja irgendwo da draußen.
Das weiß sie doch. Das hat er doch schon oft gesagt. Bestimmt wiederholt er es, weil er denkt, sie habe das vergessen, es sei gelöscht worden von der Blutüberschwemmung in ihrem
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