Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
deutlich, so, als hätte er sich seiner anderweitigen Pflicht , der gegenüber Heidrun, besonnen. Als wäre das Erfüllen von Pflichten das, was ihn antrieb und seinen Willen unterwarf und gar nicht zum Zuge kommen ließ. Als wollte er unangreifbar sein, ein zwischen die Pflichten Geworfener, einer, dem man nicht nachsagen konnte, er habe die Pflicht verletzt, die Familien pflicht nicht und die Kebsen pflicht nicht, aber sie hatte gewusst, dass es etwas war, was er sich vormachte, mit Eifer, Ernst und Zerissenheit, und als sie zum ersten Mal Anzeichen dieser Zerrissenheit wahrgenommen hatte, war sie versucht gewesen, sie weiterzutreiben, ihm Heidrun auszutreiben und ihn weg von sich, sollte er doch sehen, wo er bliebe mit seiner Pflicht versessenheit, seinem fordernden Hunger nach ihr, der vielleicht nur der Hunger nach Heidrun war, womöglich sah er Heidrun vor seinen geschlossenen Augen, wenn er mit ihr schlief, womöglich hielt er, mit ausreichendem Pflicht bewusstsein, ihren für Heidruns Körper, sie war immerhin magerer geworden in den letzten Wochen, sie hatte ihm in einer Aufwallung großer Wut einen Pflicht verteidiger gewünscht, falls sie stürbe, erstickte an seinem Pflicht beitrag, denn er wäre schuld an ihrem Tode, so viel stand fest … Sie hatte einen Spanischkurs der Volkshochschule besucht damals und deshalb ein Wörterbuch mit in den deutschen Harz genommen, hatte es immer mit sich geführt, in Handtasche oder Rucksack, und es war seines gewesen, das sie ihm geschenkt hatte. Helene sieht es vor sich und sieht, wie sie ihn damit schlägt, wie sie dann die Absatzschuhe zur Hand nimmt und auf ihn eindrischt wie der Schmerz auf sie all die Wochen, während er nichts tut, nur dasitzt und alles erträgt und die Augen geschlossen hält und wahrscheinlich daran glaubt, dass es seine Pflicht ist, das auszuhalten. Als sie von ihm ablässt, hat einer der Schuhe seinen Absatz verloren.
Das Licht ist aus, die Bandner glotzt nicht mehr.
Dafür dämmert es.
Jenseits der Dämmerung liegt ein heißer, sonniger Tag, in den es sie zieht wie in ein warmes Ölbad. Vorerst aber folgt die Dusche, mit Carola. Carola fährt sie danach ins Frühstückszimmer, es hat ihr jedoch den Appetit verhagelt. Die Erinnerungen an Matthes’ Affäre haben sie Kraft gekostet, von der sie nicht wusste, dass sie darüber verfügt. Jetzt ist sie diese Kraft los, und kraftlos lässt sie das Essen an sich vorbeigehen, wie damals .
Der Fernseher läuft. Noch immer Überflutungen in Deutschland. Vor sechzehn Jahren, muss sie auf einmal denken, gab es zwar sie und Matthes und drei ihrer fünf und zwei weitere Mattheskinder und Heidrun und deren beide Töchter und Matthes’ Geschiedene und die Väter ihrer eigenen Söhne, aber es gab dieses Gebilde nicht, das sich nun Deutschland nennt. Wo Ost und West sich sehr unmittelbar miteinander vermengen und auf diese Weise einen westöstlichen Mischpuffer bilden sollen zwischen dem richtigen Osten und dem tatsächlichen Westen. Eigenartig. Es hat keine Rolle gespielt, seit Helene wieder zu sich gekommen war, nicht einmal letzte Nacht, als Gefühle von damals, aus einem anderen Land, hochkochten, als seien sie gerade eben in diesem entstanden. Überhaupt – hatte die Erfahrung des Verschwindens, ohne von der Karte getilgt zu werden, nicht vor dem Platzen des Aneurysmas, vor der Dunkelpause, über allem gehockt wie ein Bussard, bereit, jederzeit nach Beute zu schnappen? Das unterschwellige, blitzschnelle Abwägen (Frisurmantelschuhe …), ob jemand von hier oder von drüben kam. Die instinktive Wendung: Wenn der andere tatsächlich von drüben kam, war dieses Drüben sein Hier. (Sie dachte, ob er dachte, dass sie dachte, dass er …) Nur dieDunkelpause konnte das ausgelöscht haben, oder? Jetzt, da sie sich darauf besann, sah sie sich im letzten Sommer beim Einkauf, es gab neue Schokolade in alter Verpackung, begierig hatte sie zugeschlagen und in der Hoffnung auf die Wiederkehr des Genusses aus Kindertagen die Tafeln zu Hause auf dem Küchentisch ausgebreitet. Als Helene fünf Jahre alt gewesen war, hatte sie, das einzige Mal, ihrer Mutter drei Mark und achtzig Pfennig aus der Geldbörse geklaut und sich eine Tafel Rotstern-Vollmilch gekauft, hatte noch unterwegs das Papier abgerissen und sich Stück für Stück in den Mund geschoben – es war das nachdrücklichste Geschmackserlebnis gewesen, dessen sie sich erinnern konnte. Und nun hatte sie den Kindern jeweils eine Tafel mitgebracht und ihnen in
Weitere Kostenlose Bücher