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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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von Wölkchen verwöhnt wurde, die sehr weich sein mussten. In Decken gewickelt, hatten sie auf einem dicken, umgestürzten Stamm gesessen. Natürlich hatten sie es vermieden, auf die morgendliche Begegnung einzugehen. Das Make-up in Violas Gesicht war sparsamer aufgetragen worden, keine Gefahr des Einreißens. Die Augenbrauen hatte sie nicht geschminkt, und die Lippen waren mit einem ins Braun hinübertönenden Stift bei ihrer Kontur belassen, nicht überzogen worden. Heute trug sie keinen Rock, sondern Hosen, das Webpelzjäckchen stand ihr. Sie hätte die gestrige Kriegsbemalung zur Selbstverteidigung gebraucht, sagte sie.
Helene schminkte sich nie.
Wie es war, das Frausein überzeichnen zu müssen, um überhaupt als Frau gesehen zu werden, wagte sie sich nicht vorzustellen. Ganz leise aber rumorte schon damals die Frage in ihr, wie es mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aussah, wenn man sliplos wie Viola aussah und das womöglich nie gewollt hatte.

Die Frau ist wieder da. Das hängende Augenlid lässt sie schläfrig aussehen. Helene freut sich eigentlich, dass sie zurückgekommen ist.
Na?, fragt nun Helene.
Na, na!, antwortet die andere drohend und lacht.
Mehr sagt sie aber nicht. Sie sitzt auf der Bank, schaut lächelnd um sich und schaukelt den Oberkörper vor und zurück.
Helene denkt an Stimmungsaufheller.
Woran mag die Frau denken?
In den Himmel schaut sie, zum Wald, auf ihre Füße, die Hände hat sie beim Schaukeln unter den Hintern geklemmt. Ihr Anorak ist so orange, dass Helene nicht lange hinsehen kann. Die Augen schmerzen.
Schon lange hier?
Die Frau schüttelt den Kopf.
Da kommt eine Schwester von der geschlossenen Station, auf der Helene vorher gewesen war, und gibt sich außer sich: Habe ich Sie endlich gefunden! Sie sollen doch nicht immer abhauen! Ach, Sie sind mir eine … Mit einem Seufzen, das Mütterlichkeit vortäuschen soll, nimmt sie die Frau am Ärmel und streichelt ihr angstverzerrtes Gesicht. Widerstrebend geht sie mit, die andere hält sie immer schön an der Angel und redet weiter auf sie ein.
Helene seufzt auch. Mütterlichkeit muss sie Gott sei Dank nicht vortäuschen, auf einmal ist sie froh, keine Beziehung zum hängenden Augenlid zu haben. Aber Helene hat eine Beziehung zu Mareile, die sie den Weg zu sich heraufkommen sieht, sie ist froh, dass sie ihr von Weitem winkt und dabei lacht und nicht mehr die heulende Sommermareile geben muss. Helene winkt zurück. Mareile rennt die letzten Meter und fällt ihr um den Hals. Helene freut sich über ihre große, schlaksige Tochter. Die sagt, dass auch Lissy hier sei, sie müsse nur noch was besorgen, und da sieht sie auch Lissy kommen. Ihre Tischlerlehre hat Ende August wieder begonnen. Unwillkürlich schaut Helene auf Lissys Hände: beide noch dran, in der rechten hält sie drei Eis, es sind drei der Sorte Buttermilch Limone. Wenn das keine Demonstration des Einvernehmens ist! Sie möchte wieder in den Rollstuhl zurück und sich von den Töchtern an den See fahren lassen, richtig erschrocken sind die beiden, als sie aufsteht und sich hineingleiten lässt. Übermütig dreht Lissy den Stuhl vor Freude, dass Helene sie beinahe ein bisschen mäßigen möchte, und schon sind sie auf dem Weg. Mareile erzählt, wie immer, vom Essen, das Matthes ihnen offenbar unverdrossen zaubert, er kocht fantastisch mexikanisch, und fragt nach dem in der Anstalt . Oller Hungerhaken. Lissy schiebt den Stuhl und grinst über ihre Schwester. Figürlich kommt Lissy nach Matthes, ist also rank und schlank, während Mareiles Beinform ganz der ihren ähnelt und ihre Konstitution andauernder Wandlung fähig ist: Von der dünnen Wiener mutiert sie innerhalb weniger Monate zur dicken Bockwurst, lässt es sich aber nicht nehmen, in ebenso kurzer Zeit wieder in den Wienerzustand zurückzukehren, wenn auch jedes Mal ein etwas längeres Würstchen aus ihr wird. Im Moment ist sie eins. Ein sehr langes. Länger sogar als Lissy. Das Eis hat sie als Erste weg.
Nein, über das Essen hier möchte Helene nicht reden.
Stattdessen sprechen sie über Lissys Lehre. Mit drei Tagen Schule und zwei Tagen Praxis macht sie die Wahrscheinlichkeit, dass Lissy ihre Hände behält, um ein Fünftel größer als jene, dass sie sie verliert. Natürlich weiß Helene, dass die Rechnung nicht stimmt, aber das braucht ja Lissy nicht zu wissen. Sie wünscht ihr Glück, laut und im Geheimen. Es ist ja immerhin ein glücklicher Nachmittag, denkt sie, den sie da haben.
Als die Mädchen sich

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