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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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uns allen, du warst auch dort.«
    »Gewiss«, stimme ich zu. Ich blicke sie an und erkenne, dass sie mich beobachtet – auch ohne Augen spüre ich, dass ihre ganze Aufmerksamkeit auf mir ruht. »Es ist nur so, dass Cerny …« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Muss ich gleich weinen? Werde ich mich verraten?
    »An wie viel erinnerst du dich eigentlich?«, fragt Ellie. »Wie viel in dir ist Vanek, und wie viel ist Michael?«
    Überrascht sehe ich sie an. Zum ersten Mal erwähnt jemand Michael. Ich schüttle den Kopf und gebe ihr die Antwort, die sie hoffentlich hören will.
    »Michael ist fort«, sage ich. »Aber ich stecke seit Jahren in seinem Kopf. Manch mal löst ein Anblick … Assoziationen aus, die … Manchmal fällt es mir schwer, die Erinnerungen dem einen oder dem anderen Bewusstsein zuzuordnen.«
    Ellie beobachtet mich schweigend. Ich betrachte die Stelle, wo die Augen sein müssten – Lucys Augen, denke ich, nur älter und strenger. Sie setzt zum Sprechen an, als sich eine andere Frau zwischen uns drängt.
    »Doktor Vanek! Wie schön, dass Sie wieder da sind!«
    Ich lächle. »Es tut gut, wieder hier zu sein.«
    Die Frau steht da, als erwarte sie etwas. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«
    »Ich …« Zwar erkenne ich sie auf die gleiche Weise, wie ich Ellie und Nikolai erkannt habe, doch an das Wie und Wann entsinne ich mich nicht. Soll ich Ja sagen und so tun, als wüsste ich Bescheid? Oder bediene ich mich noch einmal des Vorwands, mir stünden nicht alle Erinnerungen zur Verfügung? Ellie schien mir zu misstrauen, als ich gerade vorher darauf zurückgriff. »Ich … es ist lange her.«
    »Arlene«, sagt sie freundlich und legt mir eine Hand auf den Arm. »Arlene Miller. Ich war mit Ihnen in der ersten Gruppe.«
    Der Name kommt mir bekannt vor. Ich erinnere mich an einen kriminalistischen Bericht, an einen Zeitungsartikel, an eine Namensliste des FBI . »Sie waren eins der anderen Kinder«, erwidere ich. »Sie sind wie …«, beinahe hätte ich ich gesagt, »… wie Michael vor zwanzig Jahren hier geboren.«
    Sie kann nicht lächeln, doch ich spüre, dass sie erfreut ist – die gleiche leblose Freude wie bei Ellie. Nein, nicht leblos. Nicht völlig tot. Arlene empfindet mehr als Ellie.
    »Kommt hinein!« Ellie schiebt uns zur Tür. »Es wird Zeit, dass die Sitzung beginnt.«
    Ich steige die Treppe hoch und werfe einen letzten Blick zu Cernys altem Haus hinüber. Wie kommt es, dass diese Leute mich so gut kennen und mich doch überhaupt nicht kennen? Ich habe Arlene nicht mehr gesehen, seit wir drei Monate alt waren. Ausgeschlossen, dass sie sich an mich erinnert, weder an Michael noch an Ambrose Vanek. Dennoch weiß sie, wer ich bin. Das Wesen, das sie verdrängt hat, erinnert sich an das­jenige, welches mich verdrängt hat.
    Aber warum benutzt sie dann noch den alten Namen?
    Der Raum ist voller Menschen, die leeren Gesichter wabern unmerklich, während sie miteinander tuscheln und die Köpfe recken. Ellie schiebt mich in die hintere Ecke und hebt eine Lampe – keine elektrische, sondern eine echte alte Öllampe. Sie reißt ein Streichholz an, und das hellste Licht, seit ich hier angekommen bin, blendet mich. Vorsichtig zündet sie den Docht an und stülpt den Glaszylinder darüber. Die leeren Gesichter folgen ihr, als sie nach vorn geht.
    »Ich mag sie nicht«, flüstert Lucy.
    »Ich glaube, das bist du«, flüstere ich zurück. Ich muss aufpassen, dass uns niemand hört. »Ich kann das Gesicht nicht erkennen, aber das Haar und der Körper passen sehr genau, ganz zu schweigen von der Stimme und … und dem Gefühl.«
    »So alt bin ich nicht«, protestiert Lucy.
    »Noch nicht, aber in etwa zwanzig Jahren wirst du es sein. Ich vermute, sie hat schon Cerny bei den Entführungen, den Morden und allem anderen geholfen. Als ich dich erschaffen habe, muss ich eine alte Erinnerung an diesen Ort zugrunde gelegt haben.«
    »Warum denn das?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Ellie steht jetzt vorn, stellt die Lampe auf einen Tisch und spricht zu den Anwesenden. »Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Ihr habt es sicher schon gehört, also rede ich nicht lange drumherum: Nach zwanzig Jahren ist Doktor Vanek zu uns zurückgekehrt.«
    Da alle offenbar sehr aufgeregt sind, habe ich mit Jubel­rufen oder Applaus gerechnet – irgendwelchen Gefühlsausbrüchen. Doch sie wenden sich nur zu mir um, lächeln und betrachten mich stumm. Ich lächle nervös zurück und nicke. Gleich darauf gilt ihre Aufmerksamkeit

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