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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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das Gesicht in eine verkniffene, starre Maske verwandelt.
    Sein ganzes … Gesicht. Er hat ein Gesicht.
    Hastig öffne ich die Tür und renne weg.



Eine Frau schreit. Ich senke den Blick und stelle fest, dass ich noch die leblose schwarze Pistole in der Hand halte. Ist sie auch für alle anderen sichtbar? Brodys Auto rollt langsam zum Straßenrand, wo es mit einem leisen metallischen Knirschen gegen einen anderen Wagen prallt und stehen bleibt. Wieder schreit eine Frau, dieses Mal nicht vor Angst oder Wut, sondern unartikuliert.
    Noch einmal betrachte ich die Waffe. Ich habe einen Mann erschossen, der kein Gesicht hatte, und sobald ich ihn erschossen hatte, war das Gesicht wieder da. War das real? Verbarg er seine wahre Natur? Oder habe ich einen Unschuldigen getötet?
    Ich laufe, so schnell ich kann, und rudere mit Armen und Beinen wie eine Zeichentrickfigur. Der Wind kühlt den Oberkörper. Ich habe die Waffe in der rechten Hand und weiß nicht, wohin mit dem Finger. Wird sich wieder ein Schuss lösen? Wie muss ich sie halten? Langsam und unbeholfen greife ich mit der linken Hand zu und drehe die Waffe herum, bis ich sie am Lauf halte. Die Finger liegen über dem Sicherungshebel. Jeder kann es sehen, wie ich im Rennen die Waffe auf und ab schwenke wie eine Flagge. Ich muss sie verstecken. Ich muss weglaufen.
    Ich muss mich selbst unter Kontrolle bringen.
    Die breite Straße, durch die ich laufe, wird von Reihen schmutziger kleiner Häuser gesäumt, die sich endlos weit in beide Richtungen erstrecken. Zwei Männer, die auf einer Terrasse sitzen, starren mich an. Ein kleines Mädchen auf einem Fahrrad verschwindet eilig hinter einer Ecke. Im Schatten einer Mülltonne ducke ich mich in den Rinnstein. Was nun? Ich muss die Waffe loswerden. Sie einfach in die Mülltonne werfen und verschwinden. Aber die Männer, das Mädchen und was weiß ich wie viele andere Leute, die durch die Fenster spähen, beobachten mich. Alle haben mich gesehen. Sie könnten bezeugen, wo ich die Waffe weggeworfen habe, und wenn sie das bei der Polizei aussagen, wird man mich bald finden und festnehmen. Ich kann die Waffe nicht zurücklassen.
    Was ist, wenn Brody mich sucht? Oder andere Gesichtslose?
    Ich schüttle den Kopf und bemühe mich, ruhig zu atmen. Ich habe ihn gesehen, keinen halben Meter vor mir, genau wie den Gesichtslosen im Krankenhaus. Aber im Krankenhaus haben die Medikamente noch gewirkt. Das ist inzwischen einige Zeit her, und ich weiß nicht, ob die Halluzinationen schon wieder eingesetzt haben. Das Pfeifen des Zugs habe nur ich gehört. War das Geräusch nicht real, oder hatte Jimmy zu große Angst, um es zu bemerken? Und warum ist sein Gesicht wieder erschienen, das des Raumpflegers aber nicht?
    Konzentrier dich. Wer Jimmy auch war, er kann mich nicht mehr verfolgen. Die größte Gefahr geht von Brody und den Cops aus. Sie suchen mich, und ich kann meine einzige Verteidigung nicht wegwerfen. Ich betrachte die Waffe, wiege sie in der Hand und richte den Blick auf die Häuser. Die Männer, die ich gerade noch gesehen habe, sind verschwunden. Wahrscheinlich rufen sie die Polizei an. Schließlich mustere ich mich selbst: schmutzig und voller Staub, getrocknete Wasserflecken vom Regen auf dem Overall. Ich fahre mir mit den Fingern durch die Haare, die fettig sind und wild hochstehen. So kann ich nicht länger herumlaufen. Ich muss frische Kleidung finden und die Waffe verstecken.
    Sie ist klein genug und passt in die Tasche, aber ich traue ihr nicht. Was ist, wenn sie einfach losgeht? Ich habe sie schon einmal abgefeuert, also ist sie nicht ge­sichert. Es sei denn, ich habe den Hebel berührt, als ich die Waffe umgedreht habe. Der Sicherungshebel ist nicht beschriftet. Ich drücke ihn hin und her, offen und blockiert – oder umgekehrt. Hin und zurück. Schließlich entscheide ich mich für eine Position und lasse ihn dort. Vorsichtig schiebe ich die Waffe in die Tasche.
    Noch einmal blicke ich in die Runde. Durch einen Spalt zwischen den Gardinen beobachtet mich eine Frau. Ich zucke zusammen, aber nicht wegen ihr, sondern wegen des Fernsehers, der hinter ihr strahlt. Beobachtet er mich? Ich unterdrücke ein Schaudern, ziehe den Kopf ein und renne los.
    Das Licht schwindet, in der Ferne höre ich Sirenen – sind sie meinetwegen unterwegs? Wollen sie zu Jimmy? Ich erreiche eine Hauptstraße, warte ungeduldig auf eine Lücke und renne zu einer Ansammlung von Geschäftsgebäuden hinüber. Eine Autowerkstatt, ein Friseur mit

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