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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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bringen, Michael. Ich will dir helfen, aber mehr kann ich nicht tun. Es ist leichter, ein Problem zu lösen, wenn man mit jemandem darüber redet. Deshalb bin ich hier. Sprich mit mir.«
    »Ich versuche gerade, die Wahnvorstellungen zu überwinden, Lucy. Ich will sie nicht noch zusätzlich füttern.«
    »Du willst überleben«, beharrt sie. »Deine Wahnvorstellungen spielen keine Rolle mehr, wenn du wegen Mordes verhaftet wirst. Fahr nach Hause, hol die Medikamente, und dann können wir uns darüber unterhalten, was real ist und was nicht.«
    Ich halte inne und beobachte die Straße. Nach einer Weile rutsche ich an der Wand hinunter und setze mich auf das Pflaster. Es ist kühl und trocken, obwohl die Luft noch sehr warm ist. »Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Gib mir etwas Zeit zum Nachdenken.«
    »Du rennst schon viel zu lange herum, du bist völlig fertig«, warnt sie mich. »Nimm dir ein paar Minuten Zeit und komm wieder zu Atem. Ich halte inzwischen die Augen offen.«
    Ich schließe die Augen, lehne den Kopf an die Wand und strecke den Nacken. Gott sei Dank passt Lucy auf …
    Unvermittelt reiße ich die Augen auf und blicke zur Straße hinüber. »Lucy, du existierst nicht. Wie willst du da aufpassen?«
    Schweigend denkt sie nach, schüttelt schließlich den Kopf. »Keine Ahnung. Unterbewusste Wahrnehmungen? Ich kann die Aufmerksamkeit auf Anblicke und Ge­räusche richten, die du an der Peripherie wahrnimmst, ohne sie als unmittelbar gefährlich zu bewerten.«
    Ich runzle die Stirn. »Ist so etwas überhaupt möglich?«
    »Wie ich schon sagte – ich weiß es nicht genau.«
    »Dann lass mich aufpassen, und du denkst nach.«
    »Ich dachte, ich bin nicht real.«
    »Meine Gedanken sind auch deine Gedanken. Was ich denke, das denkst auch du. Wahrscheinlich klarer als ich, nachdem du offenbar der Inbegriff der idealen Frau bist.«
    Sie lächelt. »Wie reizend von dir, Michael.« Sie steht auf. »Wir müssen herausfinden, wie wir nach Hause kommen.«
    »Dazu müssen wir zuerst wissen, wo wir sind.«
    »Wo sind wir denn?«
    Ich antworte, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Keine Ahnung.« An der Mündung der Einfahrt kommen ständig Fußgänger und Autos vorbei, hin und wieder wirft uns jemand einen Blick zu, aber niemand bleibt stehen oder zeigt auf uns. Es ist ein gewöhnlicher Abend, ich bin ein ganz gewöhnlicher verrückter Bursche, der in einer Ecke hockt und mit sich selbst redet. Da gibt es nichts weiter zu sehen. »Ich glaube nicht, dass wir im Stadtzentrum sind, aber mehr weiß ich nicht.«
    »Wir sind ganz sicher nicht im Zentrum«, entgegnet Lucy. »Da wohne ich nämlich. So weit wie heute komme ich dort nur hinaus, wenn ich … wenn ich dich sehen will.« Sie legt mir die Hand auf die Schulter. Auch wenn ich die Berührung nicht spüre, das Wissen darum ist so stark, dass alles weggewischt wird, was dagegen spricht. »Ich bin schon einmal hier durchgekommen, als ich zu dir wollte. Ich kenne diese Gegend.«
    »Du kannst sie nicht kennen, wenn ich sie nicht kenne.«
    »Das meine ich doch«, entgegnet sie. »Du warst schon einmal hier und weißt auf jeden Fall, dass dies eine Hauptstraße ist, die ins Zentrum führt. Dein Unterbewusstsein weiß, wohin die Straße führt, und daher weiß ich es auch.«
    »Schön«, antworte ich. »Wohin geht’s dann von hier aus?«
    Sie pirscht sich bis zur Ecke vor, sieht sich um und winkt ungeduldig. »Ohne dich sehe ich leider nicht viel.«
    Ich stehe auf und folge ihr, blicke verstohlen die Straße hinauf und hinunter. Sie lächelt und klopft mir auf die Schulter. Die Finger sind weich und kühl.
    »Da entlang.« Sie übernimmt die Führung und geht auf dem Weg zurück, den wir gekommen sind.
    »Da nähern wir uns aber wieder …« Ich halte inne, denn ich will es nicht aussprechen: Dort ist die Stelle, wo ich jemanden in einer belebten Straße erschossen habe. »Du weißt schon«, sage ich leise.
    »Wir gehen nur zwei Blocks zurück, dann biegen wir ab«, beruhigt sie mich.
    »Bist du sicher?«
    »Aber klar, und das bedeutet, dass du auch sicher bist. Komm schon.«
    Ich rücke den schmutzigen Overall zurecht. Mein Äuße­res ist mir peinlich, trotzdem mische ich mich unter die Menge und gehe los. Lucy beschleunigt ihre Schritte und bahnt sich mühelos einen Weg durch die Passanten. Ich beeile mich, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ein paar Ecken weiter verlassen wir das Geschäftsviertel, und die Straße ist nicht mehr so belebt. Hier

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