Du stirbst zuerst
Finger krümmen. Wird das ausreichen? Ist die Waffe wirklich feuerbereit?
Ist es überhaupt ein Monster?
Ich habe Jimmy erschossen, aber nicht weil er ein Drogendealer war, nicht weil er mich töten wollte, und nicht weil ich mich verteidigen musste. Er konnte sich ja kaum noch bewegen. Ich habe ihn erschossen, weil ich ihn für eins der Ungeheuer in meinem Kopf gehalten habe. Als mir der Fehler bewusst wurde, war es zu spät. Könnte mir das Gleiche noch einmal passieren? Die Made kriecht näher, schwillt an und verlängert sich, öffnet und schließt das Maul und wittert in der Luft.
»Sag was!« Vielleicht ist es nur ein Landstreicher oder eine Obdachlose, die etwas zu essen sucht. Vielleicht ein Kind, das sich verirrt hat, ein kranker Mann oder ein Hund. Meine Augen werden feucht. »Sag mir, wer du bist.«
Nur noch zwei Schritte. Ich weiche zurück, halte dabei aber die Waffe auf den Albtraum vor mir gerichtet. Ich stoße einen entsetzten Schrei aus – ich weiß nicht, was ich tun soll, denn ich kann dem eigenen Kopf nicht mehr trauen. Die Gesichtslosen sind real, aber einige von ihnen sind auch falsch. Ich muss mich wehren, weiß aber nicht einmal, ob die Visionen, gegen die ich kämpfe, real sind. Noch einmal schreie ich und knirsche mit den Zähnen.
»Sag was!«
Ich darf kein Risiko eingehen. Jäh mache ich kehrt, werfe die Waffe in die Mülltonne und stürze aus der Gasse hinaus. Erst als ich die Straße erreicht habe, blicke ich zurück. Die Made kriecht langsam hinter mir her. Auf der Kreuzung blökt eine Hupe, Scheinwerfer und Hecklichter rasen vorbei. Ich wende mich um und renne weg.
Als ich eine größere Straße erreicht habe, gehe ich langsamer und versuche, den Eindruck zu vermeiden, als liefe ich vor etwas davon. Diese Straße ist stärker belebt, überall Geschäfte, Restaurants und Passanten.
»Warum läufst du in diese Richtung?«
Ich schlucke und gehe weiter. »So entferne ich mich von Brodys Auto.«
»Glaubst du, dass du in dieser Richtung einen Bahnhof findest?«
»Ich hoffe es. Irgendwann stoße ich bestimmt auf einen Bahnhof, wenn ich nur weit genug gehe.«
Sie nickt. »Auf einem Bahnhof findest du einen Stadtplan, aber dort gibt es auch Überwachungskameras.«
Ich bleibe keuchend stehen und schließe die Augen. »Ich will nicht mitfahren, ich brauche nur die Karte. Ich muss herausfinden, wo ich bin.«
»Geh weiter!«, drängt sie mich. »Hier ist es nicht sicher, du kannst nicht stehen bleiben.«
»Wohin denn bloß?«
»Zu mir. Dort kannst du dich verstecken.«
»Lucy.« Ich wende mich zu ihr um, aber sie ist fort. Mit geschlossenen Augen strenge ich mich an, als wäre der Verstand ein Muskel, den ich anspannen kann. Lucy existiert nicht. Also höre ich nicht auf sie.
In jedem Bahnhof gibt es einen Lageplan, mit dem ich feststellen kann, wo ich bin. Ich gehe weiter, bis ich eine Sirene höre und mich an eine Mauer drücke.
In dieser Gegend gibt es nichts außer Geschäften und Lichtern. Dort kann ich nicht mitten hinein, ich brauche eine Seitenstraße. Ich drehe mich zum Polizeiwagen um, kann aber nichts erkennen, und eile weiter. Lucy entdeckt die Lücke in der Mauer im gleichen Augenblick wie ich.
»Da hinein!«
Ich folge ihr und renne die letzten paar Meter. Die überraschten Gesichter der Menschen auf der Straße bemerke ich kaum. Wir verschwinden in der großen schwarzen Öffnung und stellen fest, dass es sich um die Zufahrt zu einer privaten Garage handelt, die wahrscheinlich zu einem Bürogebäude gehört. Der Weg endet hinter einer kurzen, vielleicht drei Meter langen Rampe vor einem breiten Metalltor. Ich drücke mich in die Ecke, stehe mit dem Rücken an der Ziegelmauer und atme tief durch. Lucy hockt neben mir und beobachtet mit dunklen Augen die Straße.
»Glaubst du, sie suchen uns?«
Ich schüttle den Kopf. »Mich schon. Dich nicht. Du bist nicht real.«
»Natürlich bin ich echt«, widerspricht Lucy. Sie blickt mich an und zieht die Augenbrauen hoch. »Ich bin eine total echte Halluzination.«
»Das ist das Gleiche, wie nicht real zu sein.«
»Du hast Wichtigeres zu tun, als dich mit mir zu streiten, Michael.« Sie wendet sich wieder zur Straße um und beobachtet sie aufmerksam. »Wie willst du nach Hause kommen?«
»Woher weißt du, dass ich nach Hause will?«
»Michael, ich lebe in deinem Kopf und kenne alle deine Gedanken.«
»Wenn dir meine Überlegungen bekannt sind, warum stellst du dann dauernd Fragen?«
»Ich will dich zum Nachdenken
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