Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
Vom Netzwerk:
gibt es wieder Pfandleiher, Schlüsseldienste und Schnapsläden. Während der Fußgängerstrom abebbt, nimmt der Autoverkehr zu, und bald sind wir auf einer Hauptdurchgangsstraße. Ich eile von Schatten zu Schatten und lasse den Blick ständig über die Gebäude, die Autos und die Laternenpfähle schweifen. In den Straßenlampen summen zornige Elektronen. Nach einer Weile erreichen wir eine große Kreuzung. Wie lidlose Augen starren mich die Ampeln an. Lucy läuft bis zur nächsten Ecke voraus.
    »Wir müssen auf die andere Seite und dann nach rechts.«
    Ich warte im Schatten eines dunklen Gebäudes.
    »Komm schon, Michael, lass uns gehen.«
    Ich schüttle den Kopf. »Die Ampeln beobachten uns.«
    »Was?« Sie seufzt. »Nichts beobachtet dich, Michael. Wach auf. Vergiss es endlich.«
    »Ich kann es nicht einfach vergessen, Lucy. Über den Ampeln hängen Kameras, die mich erfassen, und dann können sie mich beobachten.«
    »Die Polizei beobachtet dich nicht mit Verkehrs­kameras.«
    »Die Polizei nicht, aber die …« Wir sind die einzigen Menschen weit und breit, doch ich will es nicht laut aussprechen. Sie legt den Kopf schief und kommt näher.
    »Wer?«
    »Die Gesichtslosen!« Ich packe sie am Arm und zerre sie zu mir in den Schatten. »Sie beobachten mich. Deshalb laufen wir auch vor ihnen weg.«
    »Ich dachte, wir laufen vor der Polizei weg.«
    Die Gedanken fließen zäh wie Brei. »Wir laufen vor beiden weg. Hör mal, Lucy … ich weiß nicht, warum ich noch nicht vorher daran gedacht habe, aber die Ampeln bieten ihnen eine weitere Möglichkeit, mich zu beobachten. Ich weiß gar nicht, an wie vielen wir schon vorbeigekommen sind, aber …«
    »Du hast nicht daran gedacht, weil es eine Wahn­vorstellung ist«, erwidert sie. Das letzte Wort betont sie überdeutlich. »Die Wirkung der Medikamente lässt nach. Deshalb bin auch ich wieder da, richtig? Es wird schlimmer, und die alten Symptome erwachen, aber du musst mir vertrauen – kein einziges dieser Symptome ist real.«
    »Nein«, erwidere ich. »Die Gesichtslosen sind real. Ich habe einen von ihnen in der Klinik gesehen, als das Mittel noch hundertprozentig gewirkt hat. Er war real.«
    »Du hast auch Jimmy für einen echten Gesichtslosen gehalten, und nun sieh dir an, wie es ihm ergangen ist.«
    »Ich weiß!«, rufe ich. Es dauert eine Weile, bis ich mich wieder beruhige. Die Scheinwerfer auf der Straße kommen mir vor wie forschende Augen. Ich ziehe mich weiter in den Schatten zurück. »Hör mal, du musst mir vertrauen. Du sagst, du weißt alles, was ich weiß, also muss dir auch dies klar sein.«
    »Du halluzinierst«, erwidert sie langsam. »Du versuchst gerade, einer Halluzination deine Realität zu erklären. Erkennst du, wie verrückt das ist? Kannst du dir überhaupt selbst trauen? Jimmy ist der Beweis dafür …«
    »Jimmy beweist überhaupt nichts«, unterbreche ich sie grob. »Hör zu, Lucy, ich weiß, dass du nicht real bist. Du warst die ideale Freundin, aber ich habe dich im Kopf erschaffen, das weiß ich. Das bedeutet aber nicht, dass alle Freundinnen nur Einbildung sind, oder? Eine eingebildete Freundin hebt nicht die Existenz aller ande­ren Freundinnen auf. Es gibt sie, sie sind überall.« Ich balle die Fäuste und bemühe mich, ruhig zu atmen. »Mit den Gesichtslosen ist es das Gleiche. Nur weil Jimmy falsch war, müssen nicht alle anderen ebenfalls falsch sein. Ich dachte, er sei einer von ihnen, und habe mich geirrt. Das heißt aber nicht, dass sie nicht existieren.«
    Lucy reibt sich über die Stirn. »Ich bin dein Unter­bewusstsein, und ich sage dir, dass sie nicht real sind.«
    »Du verkörperst meine unterbewussten Ängste, die mir sagen, ich müsse mich irren, genau wie es mir alle Welt mein Leben lang eingebläut hat. Aber diesmal liege ich richtig, Lucy. Du musst mir glauben.«
    »Trotzdem …«
    »Wenn du mich liebst«, sage ich und fasse sie bei den Händen, »dann musst du mir vertrauen.«
    Sie starrt mich an und erwidert den Händedruck – fest und tröstlich. In ihren Augen blinken winzige Lichtreflexe. Sie nickt.
    »Ich vertraue dir.«
    »Danke.«
    »Und wenn du mich liebst, dann überquerst du diese Straße.«
    »Was?«
    Entschlossener, als ich es ihr zugetraut hätte, zieht sie mich aus dem Schatten heraus. »Du musst die Straße überqueren«, wiederholt sie. »Wir sind nur noch sechs Blocks von der Bäckerei entfernt, in der du arbeitest. Wir haben uns dort ein paarmal in der Mittagspause getroffen, erinnerst du dich?

Weitere Kostenlose Bücher