Du stirbst zuerst
Von dort aus sind es noch etwa zwei Meilen bis nach Hause. Zuerst musst du aber über die Straße.«
Voller Angst weiche ich zurück. Es ist eine irrationale Furcht vor den Kameras auf den Ampeln und vor den Ampeln selbst. Vor jedem Scheinwerfer, jedem Auto, jedem gesichtslosen Fahrer. In meiner Vorstellung ist die Straße ein wilder Strom stählerner Raubtiere, die, allesamt auf der Suche nach mir, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vorbeirasen, jederzeit bereit, abzubiegen und auf mich niederzugehen wie ein Meteorschwarm, Auto um Auto, bis ich unter einem riesigen Berg begraben liege. Ich stolpere und verliere das Gleichgewicht, doch Lucy fängt mich auf und stützt mich mit fester, sanfter Hand.
»Sieh mich an, Michael.«
»Ich kann da nicht hinüber …«
»Sieh mich an«, wiederholt sie. »Sieh mich an, sieh mir in die Augen.«
Langsam hebe ich den Blick, sehe den Schwung ihrer Wangen, die dunklen Wellen der Haare, die schwachen Spiegelungen in den Augen. Ich blicke ihr in die Augen – in die Augen, in die ich so viele Male gestarrt habe. In die Augen, die ich schon geliebt habe, bevor ich sie überhaupt gesehen hatte. Ich muss weinen.
»Du bist nur ein Traum, Lucy.«
»Liebst du mich?«
Ich schluchze. »Ja.«
»Dann spielt es keine Rolle. Wir werden die Straße überqueren, alles wird gut, denn wir sind zusammen. Nichts wird passieren.«
»Sie werden mich bemerken …« Ich blicke zu den Ampeln hinauf, doch sie zwingt meinen Kopf zu sich herum.
»Sieh mich an«, sagt sie leise. »Nur mich.« Rückwärts geht sie den ersten Schritt und zieht mich mit. Langsam folge ich ihr und konzentriere mich nur auf die Augen. Wir verlassen den Schatten, erreichen den Bordstein, warten am Straßenrand. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie die Ampel umspringt, ich zittere vor Angst, wenn ich sie nur sehe, und kann kaum noch atmen, doch Lucy fängt meinen Blick ein, und dann treten wir auf die Straße. Linker Fuß, rechter Fuß. Zentimeter um Zentimeter. Die Autos rasen vorbei, ich verdränge sie und alles andere außer Lucys dunkelbraunen Augen.
Die Hälfte haben wir geschafft.
Noch drei Spuren voll mit Autos, die wie ein Schwarm kristallener heller Käfer an der Kreuzung aufgereiht sind. Die Scheinwerfer beobachten uns wie die Augen wild entschlossener Soldaten, die zum Kampf angetreten sind. Sie sind viel zu nahe. Ich strauchle und entferne mich schräg von den wartenden Autos. Lucy zieht mich auf den Überweg zurück.
»Sieh mich an, Michael. Sieh nichts anderes an, nur mich.«
Der grüne Schimmer auf dem Pflaster wird rot, in den Augenwinkeln springt ein anderes Licht von Rot auf Grün um, und die grollenden Käfer kreischen und heulen vor Wut. Ich beeile mich, doch die Nervosität lähmt mich. Die zweite Spur habe ich überwunden, hinter mir erwachen die Autos brüllend zum Leben und sausen fauchend vorbei. Ich habe Atemnot.
»Ich bin da, Michael. Bleib bei mir.«
Endlich erreiche ich den Bordstein, und hinter mir bricht der Damm. Tausend Autos rasen wütend vorbei. Lucy geht neben mir und stützt mich mit einem Arm. Eilig entfernen wir uns von der Kreuzung. Hinter uns wendet ein Wagen an der Ecke und fährt langsam neben uns her. Die Polizei. Mein Herz rast, der Schweiß läuft mir den Rücken hinunter.
»Bleib ruhig«, sagt Lucy.
Der Beamte lässt ein Fenster herunter. »Haben Sie Schwierigkeiten, Sir?«
»Geh einfach weiter«, flüstert Lucy. »Sag ihnen, dass es dir gut geht.«
»Ich habe zu große Angst.«
Sie wendet sich an die Cops. »Mir fehlt nichts, danke. Ich gehe nur spazieren.«
Aus den Augenwinkeln betrachte ich sie. »Du kannst nicht mit anderen Leuten reden.«
»Ich hab’s doch gerade getan.«
»Hat er es gehört?«
»Er hat dich gehört«, sagt sie. »Sei still, er beobachtet uns immer noch.«
»Alles in Ordnung, Sir? Haben Sie etwas getrunken?«
»Sie haben angehalten, weil du geschwankt bist«, erklärt Lucy. »Nicht weil sie dich erkannt haben. Sie wissen nicht, wer du bist.«
»Ich bin nur …« Ich schlucke und blicke nach vorn. Im Hinterkopf schreit jemand: Sieh sie an – sie haben keine Gesichter! Ich weigere mich, sie anzublicken, ich lasse mich nicht von den Halluzinationen unterkriegen. »Ich gehe nur nach Hause. Mir geht es gut.«
»Sie gehen etwas unsicher«, sagt der Beamte.
»Siehst du?«, meint Lucy.
»Haben Sie etwas getrunken?«, fragte er wieder. »Haben Sie Schmerzen?«
»Er glaubt, du hättest Drogen genommen«, erklärt Lucy mir.
Ich lache
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