Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Titel: Du und ich und all die Jahre (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Silver
Vom Netzwerk:
starrte.
    «Ich versuche, es zu verstehen, Nicole», sagte er und legte sanft seine Hand auf meine Schulter.
    «Aber du tust es nicht», fuhr ich ihn an. Es brauchte eisernen Willen, seine Hand nicht wegzuschubsen. «Du verstehst es nicht. Niemand tut es. Ich habe niemanden, mit dem ich darüber reden kann.»
    Seufzend zog er seine Hand wieder weg. Wir hatten diese Unterhaltung bestimmt schon ein Dutzend Mal geführt. Beharrlich schlug er wieder und wieder vor, dass ich eine Therapie machen sollte.
    «Es ist anderthalb Jahre her, Nic. Und du hast dich deinen Gefühlen nie wirklich gestellt. Es wird nur schlimmer …»
    «Es wird schlimmer? Was wird schlimmer?»
    «Sei nicht so, Nic …»
    «Wie bin ich denn?» Ich war stinksauer auf ihn, stand mit hochrotem Kopf da und ballte die Fäuste. Mein Blutdruck stieg, und meine Fingernägel gruben sich in meine Handballen. Ich hätte noch nicht einmal sagen können, weswegen ich so wütend war.
    «Wann genau habe ich denn über ihn hinweg zu sein, Dominic? Wann genau muss es aufhören, weh zu tun? Welches Datum würde dir denn passen?»
    «Das ist unfair, ich möchte lediglich, dass du dir Hilfe holst.»
    «Ich will keine Hilfe», schrie ich ihn an.
    «Was willst du denn dann? Mit wem willst du reden? Herrgott, wenn er wirklich der einzige Mensch ist, mit dem du reden kannst, dann ruf Aidan an. Los!», rief er und gab mir das Telefon. «Tu es einfach!»
    «Wie zum Teufel kommst du denn jetzt darauf?», zischte ich. Ich konnte mich nicht mal mehr daran erinnern, wann ich Aidans Namen zuletzt erwähnt hatte. Dom drehte mir den Rücken zu. «Dominic?» Schweigen. «Warum hast du das gesagt?»
    «Ich habe die Briefe gelesen.»
    Die Briefe. Die Briefe, die ich Julian geschrieben hatte und die auf meinem Computer im Ordner «Admin» abgespeichert waren. «Du hast meine Briefe gelesen?» Dom lehnte mit verschränkten Armen am Küchentresen und wich meinem Blick aus.
    «Du hast sie einfach so gelesen, ja? Rein zufällig. Du hast nur mal nebenbei den Admin-Ordner auf meinem Laptop gecheckt. Wonach hast du gesucht? Nach meinen alten Steuerunterlagen?»
    «Nein, ich habe etwas gesucht, das mir erklärt, was in deinem Kopf vorgeht. Ich wollte dir helfen …»
    «Du hast mir nachspioniert. Du hast meine Privatsphäre verletzt.»
    «Ich wollte dir helfen», wiederholte er. «Aber in den Briefen steht, dass ich das gar nicht kann. Niemand kann das. Die einzigen Menschen, mit denen du reden willst, sind Julian – der ist tot – und Aidan. Aber das geht auch nicht, weil … Wie war das noch gleich? Was hast du über ihn geschrieben? Ach ja! Ich zitiere: Du erträgst es nicht, Aidans Stimme zu hören und dabei die ganze Zeit daran zu denken, dass du ihn nie wieder berühren wirst.»

    Am nächsten Tag nahm ich den Zug nach Edinburgh, volle vier Tage früher als nötig. Auf der gesamten Fahrt bebte ich innerlich vor Zorn und war unfähig, zu lesen oder zu arbeiten. Meine Wut und meine Schuldgefühle brachten mich halb um.
    Ja, ich hatte diese Dinge über Aidan geschrieben, und ja, es war furchtbar für meinen Mann, das lesen zu müssen. Aber diese Briefe waren privat. Ich hatte sie so geschrieben, als würde ich mit Julian sprechen, genau genommen waren sie Tagebuch und Beichtstuhl zugleich. Nichts davon war für die Augen eines anderen Menschen bestimmt gewesen. Dom hatte kein Recht gehabt, das alles zu lesen, egal wie ehrenwert seine Motive gewesen sein mochten.
    Abgesehen davon hegte ich gewisse Zweifel daran, wie edel seine Absichten tatsächlich waren. Natürlich wollte er, dass es mir besserging und ich nicht mehr so unglücklich war. Aber beides wünschte er sich ebenso sehr um seinet- wie um meinetwillen. Das Leben mit mir sollte wieder fröhlicher und einfacher werden. Klar, warum auch nicht? Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass meine Trauer für ihn zu einer reinen Unannehmlichkeit geworden war.

    Ich kam am Donnerstag an. Edinburgh nach dem Festival: Katerstimmung in der Stadt. Langsam kehrte der Alltag wieder ein. Die ganzen Engländer und Amerikaner reisten ab, die Einheimischen kehrten zurück und waren erleichtert, ihre Heimat wieder für sich zu haben. Die Produzenten von Frauentausch hatten mich im Radisson auf der Royal Mile untergebracht, aber die Buchung galt erst ab Montag. So lange quartierte ich mich in einer überteuerten Pension auf der George Street ein. Mein Zimmer im ersten Stock war klein und muffig. Das Fenster ließ sich nur einen winzigen

Weitere Kostenlose Bücher