Du und ich und all die Jahre (German Edition)
Geschichte von Judas und Jago, von Brutus und Delilah zum Beispiel. Ich dachte sogar, ich könnte dabei noch etwas lernen. Vielleicht sogar etwas, das mir in meiner momentanen privaten Situation hilft. Denkste! Ich lerne überhaupt nichts. Stattdessen geht es nur darum, große und kleine Skandale möglichst reißerisch breitzutreten.
Annie Gardner, die Frau, die ich morgen in Oxford besuche, ist ein Paradebeispiel. Annie ist mit Jim verheiratet. Sie haben zwei Töchter, und soweit es Annie betrifft, waren sie eine glückliche Familie. Das dachte sie zumindest, bis ihre Schwester, Suzanne, schwanger wurde und ihr eröffnete, dass Jim der Vater des Kindes ist. Suzanne will das Baby behalten, und Jim hat sich großzügig bereit erklärt, sie zu unterstützen. Annie hat ihnen beiden verziehen. Und morgen muss ich mich in diese familiäre Hölle begeben.
Annie ist die perfekte Kandidatin für die Show – und die sind gar nicht so leicht zu finden, auch wenn man das angesichts des täglichen Fernsehprogramms nicht glauben mag – aber sie weiß noch nicht so genau, ob sie ihre schmutzige Wäsche wirklich in der Öffentlichkeit waschen will. Es könnte gut sein, dass sie es sich anders überlegt hat und abspringen will. Mein Job ist es, sie zu überreden, an Bord zu bleiben. Ich muss meine Taktik und einen entsprechenden kleinen Vortrag ausarbeiten, mit denen ich Annie davon überzeuge, in der Sendung aufzutreten. Dabei will ich Annie nur so weit manipulieren und belügen, dass ich nachts ruhig schlafen kann. Nicht einfach.
Ich wälze das Problem den ganzen Nachmittag in meinem Kopf hin und her, so gegen sieben gebe ich auf. Ich gehe die Treppe hinunter und finde Dom in der Küche, wie er den offenen Kühlschrank anstarrt.
«Was wollen wir zum Abendessen machen?», fragt er. «Wir haben Truthahn, Schinken und noch einen ganzen Teller voll Weihnachtsgebäck.»
«Chinesisch», sage ich. «Mir ist nach Chinesisch.»
Wir bestellen knusprige Ente, Sojasprossen aus dem Wok, Garnelen und Frühlingsrollen, Seegras und eine ganze Ladung Krupok. Das Festessen findet auf unserem Sofa vor dem Fernseher statt, hinterher hängen wir satt und erschöpft in den Polstern. Ich liege in Doms Armen, die Hunde schnarchen leise neben dem Kamin. Dabei sehen wir uns einen Wiederholungsmarathon von Blackadder mit Rowan Atkinson an. Perfekt. Solides häusliches Glück.
«Nic?», fragt Dom mit schläfriger Stimme und drückt mich. «Wollen wir früh ins Bett gehen?»
«Wie bitte?», frage ich und spiele die Schockierte. «Zweimal an einem Tag?»
«Nein, ich meine, dass ich einfach nur ins Bett will, ich möchte schlafen, ich bin am Ende.»
«Geht in Ordnung, alter Mann», sage ich und lächle. «Ich bringe die Hunde ins Bett, du machst Kakao.»
Mitten in der Nacht wache ich aus einem Albtraum auf. An die Details kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass er furchtbar war. Dom schläft neben mir wie ein Stein, um mich zu beruhigen, nehme ich seine Hand. Er wacht davon nicht auf. Ein paar Minuten lang liege ich reglos da und lausche seinem Atem. Ich bin hellwach, mein Herz klopft ein wenig zu schnell.
Ich schaue auf die Uhr meines Handys. Halb zwei. Noch fünf Stunden Schlaf. Wenn ich schlafen könnte. Mein Gedankenkarussell will einfach nicht anhalten; ich muss ständig an New York denken. Seit Monaten freue ich mich auf die Reise, seitdem Karl uns zu seiner ersten «Neujahr in New York»-Party eingeladen hat. Ich war jahrelang nicht mehr drüben, seit 2005, um genau zu sein, und ich bin so gerne in New York. Es ist einer meiner Lieblingsorte auf der ganzen Welt. Und ich freue mich schon so darauf, Karl wiederzusehen. Aber in New York wartet nicht nur Karl; Aidan wohnt auch dort und Alex. Wieso wohnen eigentlich alle wichtigen Menschen in meinem Leben im glamourösen Manhattan und nur ich sitze noch immer im langweiligen Südwesten von London fest? So hatte ich das alles nicht geplant.
Ich ziehe meine Hand aus der von Dom, wende mein Kissen und bette meine Wange auf den kühlen Baumwollstoff. Dann schließe ich die Augen. Schlafen. Ich muss schlafen. Ich kann nicht schlafen. Stattdessen erstelle ich im Geiste die nächste Liste.
Neujahrsvorsätze 2011:
Aidan wegen eines Jobs anrufen
Fünf Kilo abnehmen
Pille absetzen
Küche streichen
Klärendes Gespräch mit Dad
Ernstes, Lächerliches und sehr, sehr Vages: eine perfekte Liste von Vorsätzen. Ich sollte sie aufschreiben. Vorsichtig schwinge ich meine Beine über
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