die Bettkante und schleiche mich aus dem Zimmer. Schon wieder taste ich im Dunkeln herum. Das wird langsam zur Gewohnheit. Ich kann jetzt nicht nach oben in mein Arbeitszimmer – es liegt direkt über dem Schlafzimmer, und die Dielen knarren erbärmlich –, deshalb gehe ich nach unten. Ich schleiche auf Zehenspitzen in die Küche (damit die Hunde nicht aufwachen) und suche, ohne Licht anzuschalten, nach der Flasche Scotch, die wir Weihnachten aufgemacht haben. Sie steht neben dem Toaster, ich schenke mir großzügig ein und gehe mit dem Glas in der Hand in Doms Arbeitszimmer, wo ich den Computer hochfahre. Ich starte den Webbrowser, logge mich in meinen Mail-Account ein und öffne die Nachricht von meinem Vater. Dann klicke ich auf Antworten .
Danke für deine Nachricht, Dad. Es tut mir leid, dass es dir nicht gutgeht.
Das klingt, als hätte er mir geschrieben, dass er eine Erkältung hat. Ich versuche es noch einmal.
Lieber Dad, deine schlechten Neuigkeiten tun mir ganz schrecklich leid. Dummerweise ist es zeitlich gerade sehr ungünstig …
Es ist zeitlich ungünstig? Was soll das denn heißen? Vielleicht, dass er einen schlechten Zeitpunkt gewählt hat, um mir mitzuteilen, dass er Krebs hat, oder eher dass es der falsche Moment ist, um überhaupt Krebs zu bekommen? Verdammt noch mal! Warum kann ich es nicht geradeheraus sagen:
Dad, ich kann dich nicht mehr vor der Operation besuchen kommen.
So hört es sich einfach nur brutal an. Keine der Varianten, die mir bisher eingefallen sind, ist der Situation auch nur ansatzweise angemessen. Ich sitze da und starre den Bildschirm an, lese seine Nachricht wieder und wieder und versuche verzweifelt, eine passende Formulierung zu finden, eine, die wirklich ausdrückt, wie ich mich fühle. Das Problem dabei ist, dass ich das selbst nicht so genau weiß, von furchtbar mal abgesehen. Ich gebe es auf und lösche, was ich geschrieben habe. Dann rufe ich einen anderen E-Mail-Account auf, den geheimen bei Hotmail, von dem Dom nichts weiß. Ich habe drei neue Nachrichten. Zwei davon sind Spam, die lösche ich schnell. Die dritte ist heute Nachmittag gekommen und stammt von
[email protected]. Alex. Kein Betreff. Ich klicke auf ihren Namen, um die Nachricht zu öffnen.
Jetzt ist es raus. Aaron spielt auswärts. Habe am Weihnachtsmorgen, während er duschte, sein BlackBerry gecheckt. Nachricht von Jessica. Ich zitiere:
«Liege in meiner neuen La-Perla-Unterwäsche (danke, danke, danke!) im Bett und habe niemanden zum Spielen. Kannst du am ersten Weihnachtstag vorbeikommen? Frohe Weihnachten, mein Lieber, J.»
Ich war natürlich nicht überrascht, aber du hast Recht, es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Messer in die Brust stechen und es dann ganz, ganz langsam drehen. Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Seitdem ich die Nachricht gelesen habe, kann ich kaum aufstehen. Ich spiele die Kranke. Deshalb bringt er mir Hühnersuppe ans Bett und kühlt meine (scheinbar) fiebrige Stirn, dabei würde ich ihm die ganze Zeit am liebsten nur ins Gesicht schlagen.
Wahrscheinlich findest du, ich hätte das nicht anders verdient. Nic, ich vermisse dich so sehr, A.
Ich trinke einen großen Schluck Whisky. Ein paar Tropfen rinnen mir über das Kinn und fallen auf mein T-Shirt. Es ist eines meiner Schlaf-Shirts, von denen die meisten aus längst vergangenen Zeiten stammen, aus einem anderen Leben. Dieses hier, mit der Aufschrift Different Class , habe ich vom Pulp-Konzert in der Brixton Academy. Julian hat es mir gekauft, das war während meinem ersten Jahr an der Uni. Es ist weich, und an den Schultern wird es langsam fadenscheinig, die Nähte gehen an manchen Stellen auf. Ich werde es erst wegwerfen, wenn es in Fetzen hängt. Nach einem weiteren Schluck Scotch schalte ich den Computer aus, wische mir die Tränen ab und gehe wieder ins Bett.
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4. Kapitel
Silvester 1991
High Wycombe
Neujahrsvorsätze:
Beim Kurzgeschichtenwettbewerb Seventeen mitmachen
Fünf Kilo abnehmen
Dad mindestens einmal in der Woche anrufen
Den Fotokurs an der Volkshochschule belegen
Julian Symonds vergessen
Charles sollte zum Abendessen kommen, und das nervte mich gewaltig. Es ging gar nicht darum, dass ich ihn nicht mochte; er war sogar sehr nett. Es war nur so … unsensibel. Schließlich war heute der Jahrestag der spektakulären Trennung meiner Eltern, und zum Teil gab ich immer noch Charles die Schuld daran. Charles, meiner Mutter und vor allem mir selbst. In den