Du und ich und all die Jahre (German Edition)
dass ich mein Ziel erreicht habe, aber ich bin kein bisschen stolz auf mich. Im Gegenteil. Ich schäme mich für die Lügen, die ich dieser Frau aufgetischt habe.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. Es ist bereits kurz nach drei: Das Mittagessen hat länger gedauert, als ich dachte. Ich müsste jetzt zurück zum Auto und dann auf direktem Weg nach London, das ist mir klar. Stattdessen überquere ich die Straße und gehe ins schlecht beleuchtete Lamb and Flag, der Stätte vieler feuchtfröhlicher Abende in meiner Studentenzeit. Ich sitze dort, halte (um der alten Zeiten willen) einen Gin Tonic in der Hand und zähle mir selbst die Lügen auf, die ich soeben einer sehr netten und offensichtlich verletzlichen Annie erzählt habe.
Erstens: Dominic hatte keine Affäre. Er hatte einen One-Night-Stand. Das ist etwas vollkommen anderes.
Zweitens: Wir waren nie bei einer Paartherapie. Dom wollte es, hat mich fast angefleht, als wir uns getrennt hatten, aber ich lehnte ab. Ich wollte nicht darüber reden.
Drittens: Ich habe ihm nie wirklich verziehen. Und Alex habe ich auch nicht verziehen.
Ich schalte mein Handy wieder ein, das ich während des Mittagessens ausgestellt hatte, und höre meine Nachrichten ab. Eine vom Büro, sie wollen wissen, wie ich mit Annie Gardner vorankomme, eine von Mom, die sich trotz der miserablen Verbindung anhört, als ginge es ihr phantastisch in Costa Rica, und eine von Dom.
«Hallo, Schatz, wir haben um acht Uhr einen Tisch beim Libanesen. Matt und Liz kommen ein bisschen früher zu uns, zum Aperitif. Äh, es ist jetzt kurz nach zwei … ruf mich bitte zurück. Hoffentlich läuft bei dir alles wie gewünscht. Ich liebe dich.»
Mit meinem Smartphone google ich Bed and Breakfast in Ledbury. Ich rufe beim Ashton Guest House an, «ein familienfreundliches B&B direkt am Fuße eines Hügels, von dem aus man die kleine Stadt Ledbury überblicken kann», und reserviere mir ein Zimmer, ehe ich es mir anders überlege. Dann wähle ich Doms Nummer und bin sehr erleichtert, als ich direkt auf seiner Mailbox lande. Obwohl ich mich für meine Feigheit schäme, hinterlasse ich eine Nachricht.
«Dom, hallo. Du wirst wahrscheinlich nicht gerade erfreut darüber sein, aber ich kann heute Abend nicht mit zum Essen kommen. Ich muss zu meinem Vater. Das kommt für dich jetzt natürlich aus heiterem Himmel, aber ich habe meine Gründe. Ich werde dir alles erklären, wenn ich zurück bin. Morgen. Ich bleibe über Nacht in Ledbury und rufe dich später noch mal an, okay? Viel Spaß beim Essen. Grüß Matt und Liz ganz lieb von mir.»
Ich lege auf und schalte mein Telefon sofort aus. Auf keinen Fall will ich jetzt eine Konfrontation riskieren – und Dom ist garantiert richtig wütend. Nicht so sehr, weil ich die Verabredung zum Abendessen abgesagt habe oder nicht direkt nach Hause komme, sondern weil ich ihm etwas verheimlicht habe. Geheimnisse kann er nicht ausstehen.
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6. Kapitel
Silvester 1996
Kapstadt
Neujahrsvorsätze:
Einserschnitt in der Zwischenprüfung
Fünf Kilo abnehmen
Um ein Praktikum bei einer Produktionsfirma bewerben
Julians einundzwanzigsten Geburtstag organisieren. Es muss gigantisch werden!
Rudern gehen. Oder Jagddemos unterstützen
Ich traf mich mit Alex am Flughafen. Wie immer sah sie wunderschön aus, obwohl sie nur abgeschnittene Jeans, eine weiße Bluse, eine Ray-Ban-Sonnenbrille und Flip-Flops trug. Nach nur zehn Tagen bei ihrer Familie in Südafrika war sie bereits richtig braun. Ich dagegen gab ein jämmerliches Bild ab: Schwarze Jeans, graues Polohemd, und ich verging beinahe vor Hitze. Ich schwitzte, roch schlecht und sah nach der endlos langen Reise mit zwei Zwischenstopps vollkommen fertig aus. Achteinhalb Stunden von London bis Nairobi, ein dreistündiger Aufenthalt am Flughafen Jomo Kenyatta, ein vierstündiger Flug nach Johannesburg, ein weiterer zweistündiger Aufenthalt und schließlich noch die zwei Stunden bis Kapstadt – für ein Mädchen, das es bislang nie weiter als bis Rom geschafft hatte, fühlte sich das an, als sei es zum Mond gereist.
Als ich mit Alex durch die Vorstädte und dann durchs Zentrum von Kapstadt zum Haus ihrer Eltern in Camps Bay fuhr, hätte ich mich tatsächlich auch genauso gut auf dem Mond befinden können, so fremd war mir die ganze Umgebung. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber bestimmt nicht das: Verkehrschaos in der Stadt, Hochhäuser, ein Gewirr von Schnellstraßen und dann, ganz plötzlich, ein
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