Du und ich und all die Jahre (German Edition)
Radio aus und bedeckte meine Augen mit den Händen. Ich hörte meinen Atem, schnell und flach.
«Oh mein Gott», stöhnte Dom, «oh Gott, Nicole …»
Ich sah ihn an. Seine Knöchel am Lenkrad waren weiß. Das war nicht real. Ich musterte das Radio. Das war nicht wahr. Das war nicht wahr!
«Nicole? Nic?» Dom hatte die Hand auf mein Knie gelegt und drückte es fest. Bevor ich ihn aufhalten konnte, schaltete er das Radio wieder an.
«… der Konvoi war unterwegs von Kabul zur pakistanischen Grenze, als das Fahrzeug der Journalisten von einem USBV-Sprengsatz getroffen wurde. Vier US-Soldaten wurden ebenfalls bei dem Anschlag getötet.»
Das war nicht wahr. Das war nicht wahr!
«Halt an, Dominic. Halt den Wagen an, halt an!»
«Nic, das kann ich nicht, hier gibt es keine Standspur, ich kann hier nicht stoppen.» Er steuerte mit einer Hand und griff mit der anderen nach meinem Arm.
«Verdammt, halt an, ich muss hier raus, Dom …»
Ich schluchzte jetzt, öffnete meinen Sicherheitsgurt und wollte die Tür öffnen.
«Um Himmels willen, Nicole!», schrie Dom. Er fuhr rechts auf den Grünstreifen und hielt. Sofort sprang ich aus dem Auto und übergab mich. Dann setzte ich mich ins Gras und presste meine Hände gegen die Ohren, um den Verkehrslärm zu ersticken.
Am Sonntag. Sonntag, hieß es, sei er gestorben. Er war schon zwei Tage tot, und ich hatte nichts davon gewusst. Und was hatte ich in der Zeit getan? Ich war im Schnee rumgetobt, hatte bei den Vorbereitungen fürs Essen geholfen und irgendwelche scheißhöflichen Gespräche über die Politik der Labourpartei geführt! Das hatte ich getan, als Jules Tausende von Kilometern entfernt starb. Weit weg von seiner Familie, von Karl und von mir.
Die Polizei kam vorbei. Ich weiß nicht, ob sie zufällig in der Gegend waren oder ob jemand sie gerufen hatte, weil wir verkehrswidrig parkten. Sie waren nicht besonders freundlich. Dom versuchte zu erklären, dass ich völlig außer mir war und mich übergeben musste. Man verpasste uns nur einen Strafzettel und meinte, wir sollten weiterfahren.
Ich legte mich auf den Rücksitz und zog mir meine Jacke über den Kopf. Dann schloss ich die Augen. Ich konnte nicht aufhören zu zittern, und meine Zähne klapperten, aber ich spürte die Kälte nicht.
«Möchtest du Alex jetzt anrufen?», fragte Dom. «Nicole?»
«Nein.»
«Vielleicht wäre das besser.»
«Ich will nicht mit ihr reden. Ich will mit niemandem reden. Nicht jetzt.»
Ich blieb so liegen. Zugedeckt auf dem Rücksitz. Während der gesamten Fahrt zurück nach London.
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17. Kapitel
30. Dezember 2011
Ich wandere durch die Straßen von Manhattan. Alleine. Dom sitzt im Hotel und arbeitet. Er schlief schon, als ich letzte Nacht zurückkam, also weiß er nichts von Alex. Ich werde es ihm sagen, aber heute Morgen war mir nicht danach. Er hatte gute Laune (Sex mit anschließendem Frühstück im Bett funktioniert immer), und die wollte ich nicht riskieren.
Auf dem Weg zu Barneys ging ich die Madison Avenue rauf. Das Wetter ist über Nacht umgeschlagen, und der Himmel ist jetzt nicht länger hell und klar, sondern dunkel und unheilvoll. Man kann den Schnee in der Luft riechen. Der Gedanke an einen Schneesturm beschleunigt meine Schritte. Dom und ich sind nachher verabredet: Er will bis zum frühen Nachmittag arbeiten, und dann treffen wir uns in der Met zwecks Kultur und anschließenden Cocktails. Danach können wir vielleicht am Rockefeller Center eislaufen gehen oder einen Spaziergang durch den Central Park machen. Dabei erzähle ich ihm dann von Alex.
Bei Barneys gibt es nichts, was ich mir leisten könnte. Na ja, vielleicht einen Schal oder eine Sonnenbrille, aber schon damit wäre ich am Limit, und ich kann bei Karls Party nicht gut mit Sonnenbrille und Schal auftauchen.
Hinzu kommt, dass alle bei Barneys beängstigend attraktiv sind. Als hätte jemand eine Horde Models auf diesem kühlen weißen Marmorboden freigelassen. Sogar in meinen hautengen Jeans und meinen coolen Jimmy-Choo-Biker-Boots komme ich mir abgerissen und deplatziert vor. Ich schleiche aus dem Laden und folge weiter der Madison Avenue, vorbei an Calvin Klein, Cartier, Chanel und Chloé. Ich habe zu große Ehrfurcht davor, einen dieser geheiligten Orte zu betreten, aber dem Anblick des himmelblauen Crêpe-de-Chine-Kleides im Schaufenster von Giorgio Armani kann ich nicht widerstehen. Ich überwinde meine Furcht (Hey, ich war im Irak, verdammt noch mal, wie kann ich
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